Lutz Neuber

Das Kontinuum der Geschichte aufsprengen!

Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen zwischen historischem Materialismus, jüdischer Mythologie und libertärer Geschichtsauffassung

Aus: Schwarzer Faden Nr. 69, 1999

Die derzeitige Krise der Linken ist nicht zuletzt einer Auffassung von Geschichte geschuldet, die durch die Annahme einer zielgerichteten Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gekennzeichnet ist, an deren Ende die Errichtung des Sozialismus/Kommunismus steht. Der Kapitalismus wurde daher als ein notwendiges Vorstadium begriffen, in dessen Schoße sich die Voraussetzungen für die Überwindung jeglicher Ausbeutung quasi gesetzmäßig herausbilden. Das Ergebnis war eine eher abwartende Haltung, der Streit darüber, ob die jeweiligen Bedingungen für die Revolution überhaupt schon reif wären.

Bei der kritischen Überprüfung dieser Auffassungen wird man früher oder später auf Benjamins Thesen "Über den Begriff der Geschichte" stoßen. In diesem Aufsatz erteilt Benjamin jener fatalistischen Einstellung gegenüber der Geschichte eine klare Absage.

Bei der Lektüre der Benjaminschen Thesen und stärker noch der Notizen und Vorarbeiten zu diesen fällt - neben der Bezugnahme auf die jüdische Mythologie - die Nähe zu anarchistischen Geschichtsauffassungen auf. Ziel dieses Aufsatzes soll es sein, diesen Zusammenhang näher herauszuarbeiten und die Aktualität der Benjaminschen Geschichtsphilosophie in der heutigen Zeit zu untersuchen.

Einleitung

Walter Benjamin wurde 1896 in Berlin als Kind wohlhabender jüdischer Eltern geboren. Er wuchs unter dem Einfluß der Kultur der deutschen Romantik und der jüdisch-zionistischen Bewegung auf. Die Erschütterungen, die in seiner Generation durch den ersten Weltkrieg erfolgten sowie die Beschäftigung mit den Schriften des französischen Anarchosyndikalisten Georges Sorel sowie des deutschen Anarchisten Gustav Landauer brachten ihn in Kontakt mit libertärem Denken, daß zu dieser Zeit in Deutschland den Punkt seiner weitesten Verbreitung erreicht hatte. Später geriet er dann zunehmend unter den Einfluß der kommunistischen Bewegung sowie an der Universität in Frankfurt in Kontakt mit späteren Vertretern der Kritischen Theorie.

Die aus seinem Nachlaß veröffentlichten Thesen "Über den Begriff der Geschichte" standen bei ihrem Erscheinen Anfang der 40er Jahre in krassem Widerspruch zu den beiden dominierenden Varianten der Geschichtsschreibung: dem Historismus wie dem der orthodox-marxistischen Parteien der Arbeiterbewegung.

Benjamin verwarf die bis zur Jahrhundertwende allein dominierende Auffassung der Universalgeschichte des Historismus als pure Aneinanderreihung von geschichtlichen Fakten ohne jeglichen Bezug auf die Probleme der Gegenwart.

Gleichzeitig wandte er sich jedoch auch gegen die vor allem mit der erstarkenden Arbeiterbewegung verbreitende Fortschrittsgläubigkeit, die auf einem stark simplifizierten historischen Materialismus Marxscher Prägung basierte.

Dagegen setzte Benjamin einen kritisch verstandenen historischen Materialismus, durchsetzt von Elementen jüdischer Mythologie und anarchistisch-libertärem Denken. Unter dem Eindruck des Nationalsozialismus auf dem Höhepunkt seiner Macht einerseits, sowie des kläglichen Versagens der Arbeiterbewegung bis hin zur Selbstaufgabe im Hitler-Stalin-Pakt von 1939 andererseits entwirft Benjamin einen völlig neuen Geschichtsbegriff, der mit dem Fortschrittsglauben bricht und dagegen eine messianische Utopie des aktiven Eingreifens in den Verlauf der Geschichte setzt.

Ausgangspunkt der Benjaminschen Geschichtsauffassung

In seinem Essay "Über den Begriff der Geschichte" versucht Benjamin angesichts der vollständigen Niederlage der internationalen Arbeiterbewegung zu Beginn des zweiten Weltkrieges die einst revolutionäre Kraft des historischen Materialismus wiederzubeleben. Ausgangspunkt ist dabei das Gleichnis des Schachautomaten, an dem eine türkischen Puppe sitzt, die jeden Gegner besiegen kann, solange sie sich eines versteckten Zwerges, eines Meisters des Schachspiels bedient. Die Puppe steht für diejenige Spielart des historischen Materialismus, die zum Zeitpunkt der Niederschrift der Thesen kraftlos geworden war und daher der Unterstützung der Theologie in Gestalt des Zwerges bedürfe. Durch eine Verbindung dieser beiden - scheinbar unvereinbaren - Elemente könne die materialistische Konzeption wieder die Initiative erlangen und "es ohne weiteres mit jedem aufnehmen".

Kritik des Historismus

Benjamin nimmt in  seinen geschichtsphilosophischen Thesen auf die eingangs erwähnten zwei Hauptströmungen der Geschichtsschreibung Bezug. Der Historismus, der von dem Prinzip der Geschichtlichkeit des Gegenstandes der historischen Erkenntnis wie auch der Begriffe ausgeht, beschränkte die Rolle der Geschichtswissenschaft auf eine bloße Aneinanderreihung von historischen Fakten. Mit Hilfe des Einfühlungsgedankens sollte versuchte werden, die geschichtlichen Ereignisse möglichst adäquat wiederzugeben. Ergebnis war ein verselbständigter historischer Wissenschaftsbetrieb, der mittels dieses "historischen Relativismus" in letzter Konsequenz nur den Stoff für die Geschichtsbücher lieferte, jegliche Rückschlüsse auf die Gegenwart aber bewußt vermied. Gleichzeitig wird vom Historismus die Abgeschlossenheit der geschichtlichen Epochen bzw. Kulturen gegeneinander betont, die in ihrer Summe schließlich die Universalgeschichte der Menschheit bilden.

Benjamin kritisierte dieses Verfahren als eine Geschichtsschreibung der Sieger, da jene es sind, in die sich der Geschichtsschreiber des Historismus einfühlt. Dieses "additive Verfahren" biete lediglich "die Masse der Fakten auf, um die homogene und leere Zeit auszufüllen" und diene nur dazu, die Wirklichkeit zu legitimieren, die Existenz von Herrschaft als das Normale in der menschlichen Gesellschaft darzustellen. Somit entsteht im Laufe der Zeit jener "Triumphzug", in dem die Kulturgüter der vorangegangenen Epochen als "Beute" mitgeführt werden, ohne das Leiden derer zu erwähnen, die letztendlich diese Güter schufen.

Dagegen setzt Benjamin ein "konstruktives Prinzip" (These XVII) der Geschichtsschreibung, des Aufgreifens der Traditionen der Unterdrückten. Diese werden im Augenblicke der Gefahr, ihrer Aktualität, dem Subjekt der Geschichte gewahr, in dem die Zeit zur "Monade" erstarrt und sich dem Betrachter als Abbild einer ganzen Epoche darlegen. Die Aufgabe des Historikers ist es also nicht, verschiedene Ereignisse in ihrem Ablauf zu verfolgen, sondern bestimmte revolutionäre Augenblicke aus "dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen", um die Bedeutung jener Epoche für den Geschichtsverlauf zu erfahren.

Mit diesem Verfahren wird nach Benjamin das Geschichtsbild des Historismus "vom historischen Materialismus durchschlagen" (These V). Auch wenn sich Benjamin auf die Seite der historischen Materialisten schlägt, verschont er diesen selbst nicht mit Kritik. Er gebraucht den Begriff des "historischen Materialismus" in verschiedener Weise: Einerseits als die Geschichtsauffassung der Arbeiterklasse, die zum Zeitpunkt der Niederschrift der Thesen längst nicht mehr der ihrer Begründer, Marx und Engels, entsprach. Andererseits will er nicht einfach die vulgärmarxistischen Verdrehungen beseitigen und zum "ursprünglichen" Begriff des historischen Materialismus zurückkehren, sondern diesen mit theologischen Elementen anreichern, um ihn wieder in einen aktuellen Bezug zur Jetztzeit zu setzen.

Der historische Materialismus bei Marx

Marx hat den historischen Materialismus als die "Wissenschaft der Geschichte" [1] schlechthin bezeichnet. Die menschliche Geschichte wird als Prozeß der Schöpfung des Menschen durch sich selbst im Durchgang durch das Stadium der Entfremdung betrachtet. In diesem Prozeß spielt die Auseinandersetzung mit der Natur, die Arbeit, eine entscheidende Rolle.

Diese vollzieht sich in einer gesetzmäßigen, durch die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmten, Abfolge von Produktionsweisen. Mit der Verbesserung der Produktionsmittel und -methoden, der Entfaltung der Produktivkräfte, geraten diese in Widerspruch mit den gegebenen Produktionsverhältnissen, die die weitere Fortentwicklung hemmen. Dieser Widerspruch wird durch die revolutionäre Umwälzung der Produktionsverhältnisse aufgelöst, eine neue Produktionsweise etabliert sich. In jeder dieser Produktionsweisen existiert eine Grundklasse, die dazu bestimmt ist, Trägerin des gesellschaftlichen Fortschrittes zu sein. Im Kapitalismus ist dies die Arbeiterklasse, der von Marx eine "historische Mission"[2] zugewiesen wird. Der Kapitalismus ist auch die letzte Gesellschaftsordnung, die mit einem antagonistischen Widerspruch behaftet ist, d.h. mit dessen Ablösung durch den Sozialismus, vollzogen durch die Machtergreifung des Proletariats, gibt es keine unüberwindbaren gesellschaftlichen Widersprüche mehr, da keinerlei Klassen als deren Träger mehr existieren. Damit wird auch die Entfremdung des Menschen abgeschafft und das Stadium der Vorgeschichte überwunden. Die eigentliche Geschichte der Menschheit beginnt.

Die Entwicklung der Menschheit ist somit faktisch ein naturwüchsiger Prozeß, der sich zwar im Kampf der verschiedenen menschlichen Klassen untereinander vollzieht, jedoch in seiner Richtung nicht auf Dauer beeinflußt werden kann. Aufgabe der Arbeiterklasse dabei ist es, sich ihrer Rolle als "Totengräber des Kapitalismus" bewußt zu werden und mittels einer Revolution die nächste Stufe des menschlichen Fortschrittes zu erkämpfen.

Dem von Marx inspirierten Teil der Arbeiterbewegung gelang es, im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in den meisten Ländern die Vorherrschaft zu erringen. Bereits vor dem ersten Weltkrieg konnten sich in den meisten Parteien Kräfte durchsetzen, die anstelle der Revolution auf ein Konzept des langsamen Hineinwachsens in den Sozialismus setzten.

Mit der Oktoberrevolution in Rußland erfolgte dann die Spaltung in einen kommunistischen und einen sozialdemokratischen Flügel. Ersterer versuchte zu den revolutionären Traditionen Marx' zurückzukehren. Infolge des Ausbleibens der Revolution in den westeuropäischen Ländern erfolgte dann aber eine schrittweise Unterordnung der kommunistischen Parteien unter die KPdSU, die revolutionäre Entwicklungen nur noch dann unterstützte, wenn es in ihr außenpolitisches Konzept paßte und ihre alleinige Führung gewährleistet war.

Das ist die Situation, in der Benjamin seine Kritik der Sozialdemokratie wie auch jener "Politiker (...), die ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache bekräftigen" (These X), also die der kommunistischen Dritten Internationale, formuliert.

Kritik der Arbeiterparteien

Die zwei oben genannten Kritiken sind im Prinzip nicht voneinander zu trennen, da die kritisierten Tendenzen in den beiden vorherrschenden Strömungen der sich auf Marx berufenden Arbeiterparteien zu verzeichnen waren - wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt.

Die zentrale Kritik Benjamins an den Arbeiterparteien ist die des völlig unkritischen Fortschrittsbegriffes. Mit der Weiterentwicklung der Wissenschaften und damit der Produktivkräfte sowie der Ausdehnung der Industrie wächst sozusagen automatisch die "Massenbasis" der Partei, womit die Voraussetzungen für den Übergang zur klassenlosen Gesellschaft geschaffen werden. Die darin implizierte Zielhaftigkeit der geschichtlichen Entwicklung auf Basis einer quantitativen Anhäufung von Fortschritten wird von Benjamin ebenso verworfen, wie der angenommene Zusammenhang von technischer Entwicklung und zivilisatorischem Fortschritt in Richtung einer freieren Gesellschaft. Damit einher geht eine auf einer "protestantischen Werkmoral" fußende Verherrlichung der Arbeit durch die Arbeiterparteien, die auf der Gegenseite eine Bejahung der hemmungslosen Ausbeutung der Natur impliziert.

Ein weiterer Kritikpunkt Benjamins am "Vulgärmarxismus" ist die des sich dort ausbreitenden Fatalismus, der letztendlich auf dem Vertrauen in den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte, der falschen Gewißheit der Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus basiert. Die Leninsche "revolutionäre Situation", die dann eintreten sollte, wenn alle objektiven und subjektiven Voraussetzung für eine Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus gegeben sind, wurde von den Führern der Arbeiterparteien immer wieder verschoben, so daß sie schließlich "nie kommen wollte". Die revolutionäre Ablösung des Kapitalismus wurde somit zu einer "unendlichen Aufgabe" umdefiniert, die "leere und homogene Zeit in ein Vorzimmer, in dem man mit mehr oder weniger Gelassenheit auf den Eintritt der revolutionären Situation warten konnte"[3], so daß die Arbeiterklasse "in dieser Schule gleich sehr den Haß wie die Opferfähigkeit" verlernte. Nicht mehr die revolutionären Traditionen waren der Maßstab für das Handeln der Arbeiterklasse, sondern das "Idealbild der befreiten Nachkommen"[4]. Frei nach der sattsam bekannten Parole: "die Enkel fechten's besser aus".

Benjamins Geschichtsphilosophie

Auf der Grundlage der vorstehenden Kritiken baut Benjamin seine eigene Konzeption des historischen Materialismus auf, die sich von der  Marxschen wie von der "vulgärmarxistischen" unterscheidet. Ein Schlüssel zum Verständnis seiner Geschichtsphilosophie ist seine Prägung durch die jüdische Religion.

Jüdischer Messianismus

Das theologische Moment, welches Benjamin in den historischen Materialismus integrieren will, beruht auf einer besonderen Variante der jüdischen Tradition, der sogenannten lurianischen Mystik der 1492 aus Spanien vertriebenen Juden[5]. Diese basiert auf der Idee des "Zimzum", der "Kontraktion Gottes", d.h. des Rückzuges Gottes aus der Welt, durch den ein freier "Urraum" für das Wirken der Menschen geschaffen wurde. Dabei zerstörte das Licht Gottes das Gefäß der eigenen Schöpfung. In einem Prozeß der richtigen Neuzusammensetzung der verstreuten Bruchstücken, dem sogenannten "Tikkun", soll der Urzustand der Schöpfung wiederhergestellt werden. Dieser Vorgang der Restauration schließt mit der Ankunft des Messias ab und bedeutet die Rettung des Werkes Gottes.

In der jüdischen Religion ist also eine Orientierung in Richtung Vergangenheit, d.h. der Wiederherstellung eines paradiesischen Urzustandes zu verzeichnen. Davon zeugt auch das Verbot bei den Juden, die Zukunft zu erforschen sowie der nach "den alten Juden ärgsten Fluch: nicht gedacht soll deiner werden!"[6]

Im Unterschied zu den meisten anderen Religionen ist das Kommen des Messias jedoch nicht unabhängig vom Wirken der Menschen, sondern Ergebnis deren aktiven Handelns und somit de facto nur noch eine "Bestätigung der Selbsterlösung der Menschheit"[7]. Gott selbst ist in der jüdischen Religion der "ewige Aufrührer, Aufrüttler, Mahner"[8], derjenige, der den Menschen jene "schwache messianische Kraft"[9] verleiht, mit deren Hilfe die Ankunft des Retters erwirkt wird. Diese stellt dann auch eine abrupte Unterbrechung des bisherigen Verlaufs menschlicher Geschichte dar: "Es gibt keine Kontinuität zwischen der gegenwärtigen und der messianischen Zeit (...) Mit Erlösung war eine Revolution in der Geschichte gemeint."[10] Das jüdische Zeitverständnis war daher auch eines dem vorherrschenden leeren, unendlich-linearen, vollkommen verschiedenes. Es basierte auf einem qualitativen, "von dem in ihr durchlebten Inhalt nicht zu trennenden"[11] Zeitbegriff.

Die "zentrale jüdische Glaubensaussage" ist jedoch "die Beteiligung der menschlichen Aktion am Werk der Welterlösung".[12] Darin besteht eine wesentliche Parallele zu einer weiteren Säule der Benjaminschen Geschichtsauffassung: dem libertären Denken.

Libertäre Geschichtsauffassung

Für den Anarchismus kennzeichnend ist die Betonung der Freiheit und der Selbstverantwortung der Individuen, die Ablehnung von Autoritäten und Hierarchien. Stattdessen wird eine Föderation der Gleichen angestrebt, die sich über freie Vereinbarungen miteinander in Gemeinschaften, ohne Zuhilfenahme des Staates zusammenschließen.

In der libertären Auffassung von Geschichte wird daher die besondere Rolle des aktiven Handelns der Unterdrückten hervorgehoben. Eine wie auch immer geartete Gesetzmäßigkeit der Höherentwicklung der Menschheit wird verneint. Im Gegensatz zur Natur, die "eisernen Gesetzmäßigkeiten" unterliegt, ist die gesellschaftliche Entwicklung lediglich Ergebnis von Zweckmäßigkeitsüberlegungen und damit "Sache des Glaubens". Der Ausgang der jeweiligen Entwicklung in einer geschichtlichen Situation ist also grundsätzlich offen und somit allein von "menschlichen Motiven und menschlichem Handeln"[13] abhängig.

Für Gustav Landauer, ein Vertreter jüdisch-libertären Denkens, der auf Benjamin einen großen Einfluß gehabt hat, ist die Befreiung der Menschheit daher auch nicht abhängig von einem bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte oder einer bestimmten Produktionsweise als Voraussetzung des Sozialismus. Dessen Voraussetzungen liegen im Grunde stets vor und müssen lediglich entdeckt werden. Dementsprechend spielt auch die Entwicklung der Technik keinerlei fortschrittliche Rolle im Hinblick auf das Ziel einer freien Gesellschaft: "Keinerlei Fortschritt, keinerlei Technik, keinerlei Virtuosität wird uns Heil und Segen bringen."[14] Im Gegenteil, der fortschreitenden Naturbeherrschung stellt Landauer eine Sozialismuskonzeption als "Wiederanschluß an die Natur"[15] gegenüber.

Folgerichtig wird auch der wissenschaftliche Anspruch des Marxschen historischen Materialismus als Weltanschauung kritisiert, wissenschaftliche Methoden für die Gewinnung von geschichtlichen Erkenntnissen werden jedoch nicht abgelehnt. Die Bedeutung der Geschichte liegt dagegen in der Vergegenwärtigung des Vergangenen im Sinne des englischen "to realise, das zugleich verwirklichen und betrachten heißt."[16]

Genauso betrifft die anarchistische Kritik am historischen Materialismus dessen ökonomischer Determinismus. Der Ökonomie wird nur eine Rolle, neben dem "Machtprinzip in der Geschichte"[17], der natürlichen Umwelt und psychosozialen Gegebenheiten zugewiesen. Lediglich für die kapitalistische Gesellschaft als solche wird von Rocker die besondere Bedeutung der Wirtschaft anerkannt.

Benjamins "historischer Materialismus"

In seinen Vorarbeiten zu den geschichtsphilosophischen Thesen notiert Benjamin "drei Momente", die in die "Grundlagen der materialistischen Geschichtsauffassung einzusenken (sind): die Diskontinuität der historischen Zeit; die destruktive Kraft der Arbeiterklasse; die Tradition der Unterdrückten."[18] Im weiteren sollen diese Momente im Benjaminschen Denken untersucht werden.

Die Diskontinuität der historischen Zeit

Wie bereits in der Kritik des Historismus angedeutet, unterscheidet sich die Zeitauffassung der alten Juden maßgeblich von der heute in den westlich geprägten Gesellschaften verbreiteten. Im Gegensatz zu letzterer Auffassung der "leeren Unendlichkeit der Zeit" setzt auch Benjamin eine "qualitative zeitliche Unendlichkeit"[19], eine Zeit, in der "jede Sekunde die kleine Pforte darstellt, durch die der Messias treten könne".[20] In dieser Zeitvorstellung ist die Vergangenheit nie abgeschlossen. Ebenso ist die Gegenwart nicht einfach Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft, sondern chiliastische Jetztzeit, die "quersteht zum naturgeschichtlichen Kontinuum"[21]. In diese "anarchistischen Konzeption der Jetztzeiten"[22] ist immer die Möglichkeit der sprunghaften Veränderung des Verlaufes der Geschichte eingebettet. Die unabgeschlossene Vergangenheit kann jederzeit in die heutige Zeit hereinbrechen, zur Erlösung drängen.

Diese Konzeption steht konträr zu der evolutionistischen Auffassung der geschichtlichen Entwicklung von niederen zu höher entwickelten Gesellschaftsformationen, analog der in der Natur, die letztlich auch vom Marxismus jener Zeit geteilt wurde. Ebenso wie in der jüdischen religiösen Tradition das Kommen des Messias ein plötzliches, jederzeit mögliches Ereignis darstellt (bzw. analog der libertären Auffassung der potentiell zu jeder Zeit möglichen Revolution), durch das der paradiesische Urzustand wiederhergestellt wird, ist bei Benjamin "die klassenlose Gesellschaft (..) nicht das Endziel des Fortschrittes in der Geschichte sondern dessen so oft mißglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung."[23] Hier klingt die Zweiteilung der Geschichte in die Vorgeschichte und eigentliche Geschichte der Menschheit an, wie sie auch bei Marx zu finden ist, jedoch eben nicht als der Endpunkt einer zielgerichteten, gesetzmäßigen Entwicklung.

In diesem Kontext ist auch Benjamins Kritik der Universalgeschichte als der bloßen Summe der Geschichte der einzelnen Kulturen mit ihren jeweiligen Epochen zu sehen. Er setzt dagegen das Landauersche "Prinzip der Schichtung"[24], des Ineinanderschiebens der Völker und Kulturen. Alle Epochen existieren auf Grunde ihrer Unabgeschlossenheit gleichzeitig und drängen bei bestimmten Ereignissen im Laufe der Zeit wieder zur Aktualität, verlangen nach ihrer Rettung. Und erst dann, im Zustande der Erlösung, ist eine abschließende, universelle Betrachtung der Geschichte der Menschheit möglich.

Die Tradition der Unterdrückten und die destruktive Kraft des Proletariats

Ausgehend von dem Gedanken, daß die Vergangenheit nie abgeschlossen ist, gilt es, an die Traditionen der Unterdrückten anzuknüpfen und diese dem "Kontinuum der Unterdrücker" entgegenzusetzen. Der Geschichtsschreiber hat die Aufgabe, einerseits die Leidensgeschichte, andererseits die des immer vorhandenen Protestes sichtbar zu machen: "Geschichte hat nicht nur die Aufgabe, der Traditionen der Unterdrücker habhaft zu werden, sondern sie auch zu stiften".[25] Ihr Ziel sollte es sein, bei den Unterdrückten seiner Zeit Gefühle der Rache, die in ihm schlummernde "schwache messianische Kraft", zu wecken, so daß im Momente des "Aufblitzens der Gefahr" deren unerfüllte Hoffnungen doch noch gerettet werden können. Hier liegt auch der Unterschied zur marxistischen Auffassung, die von der Erlösung "kommender Generationen" ausgeht, wogegen Benjamin auf die Fortsetzung und schließliche Erfüllung der Kämpfe der vergangenen Generation setzt. Sein Geschichtsverständnis ist als im Grunde "rückwärts gewandt" (allerdings nicht im Sinne von rückschrittlich). Damit korrespondiert auch das Landauer entliehene Motiv des "Sozialismus als Umkehr", sein "Griff zur Notbremse", mit dem der Dauerzustand der Katastrophe beendet werden soll.

Das historische Subjekt, daß die Tradition des Protestes aufgreifen soll, ist das Proletariat als Nachfolger aller unterdrückten Klassen in der Geschichte. Diesem obliegt es, die Geschichte stillzustellen und damit das Kontinuum der Unterdrückung zu zersprengen. Darin liegt die "Funktion der politischen Utopie (des Proletariats): den Sektor des Zerstörungswürdigen abzuleuchten."[26] Hier verleiht Benjamin, ganz in der Tradition Bakunins der Zerstörungskraft eine im Sinne der Beendigung des dauerhaften Ausnahmezustandes, der sich auftürmenden Trümmer der andauernden Katastrophe, eine schöpferische Kraft.

Ausblick

Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß der Benjaminsche "historische Materialismus" im Grunde gar keiner ist, da er weder historischen Charakter - im Sinne einer gerichteten Entwicklung in der menschlichen Geschichte - trägt, noch allein materialistisch geprägt ist. Am ehesten ist seine Geschichtsauffassung wohl mit dem Begriff einer messianisch angereicherten "antihistorischen Geschichtsphilosophie"[27] gekennzeichnet.

Eine Ursache für sein Festhalten am Begriff des historischen Materialismus könnte eine Konzession an die mit großer politischer Vorsicht im amerikanischen Exil agierenden Vertreter des Frankfurter Institutes für Sozialforschung, mit denen er in enger Verbindung stand. Darauf deutet auch der offenkundige Unterschied zu den Formulierungen in den Vorarbeiten zu den "Thesen über den Begriff der Geschichte" hin. Dort sind Benjamins Gedanken in einer sehr deutlichen Sprache formuliert, ohne deren Kenntnis die Thesen im Grunde gar nicht interpretierbar sind.

Benjamin betritt mit dem Bemühen der Theologie den unter den "wissenschaftlichen" Sozialisten von jeher verpönten Boden des philosophischen Idealismus. Die Frage bleibt, ob ein solcher Schritt in der praktischen Geschichtsschreibung, denn die revolutionäre Praxis ist ja letztendlich deren Ziel, zulässig ist, oder aber zu neuen Mythen führt, die das Ziel der Erlösung in noch weitere Ferne rücken lassen.

Die Frage läßt sich so ohne weiteres nicht beantworten. Ebenso wie der Materialismus allein genommen dazu führt, die Umkehr immer wieder zu verschieben, da irgendwelche Bedingungen immer noch nicht herangereift seien, kann ein bloßer Idealismus dazu führen, die Umkehr erzwingen zu wollen und diese damit ad absurdum zu führen. Es kommt also darauf an, zwischen diesen beiden Polen eine Vermittlung, eine dialektische Wechselbeziehung, zu finden, um zum Ziel der Geschichtsbetrachtung, der gesellschaftsverändernden Praxis, zurückzukehren.

Ich meine, daß Benjamins "Griff zur Notbremse" heute dringender denn je ist. Spätestens seit Tschernobyl dürfte klargeworden sein, daß eine ungebremste und unkritische Fortschrittsbejahung bei der Entwicklung der Produktivkräfte den Bestand der Menschheit gefährdet. Gleichzeitig vermehren sich weltweit die Anzeichen von Barbarei. In diesem Sinne ist der Benjaminschen Mahnung bezüglich der Kehrseite der Fortschritte bei der Beherrschung der Natur, nämlich der "Rückschritte in der Gesellschaft" (These XI) höchst aktuell.

Es genügt also nicht darauf zu verweisen, daß die materiellen Voraussetzungen für eine Gesellschaft ohne Not, ohne ein durch Entfremdung dominiertes Leben der Menschen, heute längst gegeben sind. Es gilt - im Sinne Benjamins - die verlorenen Traditionen des Protestes wieder aufzugreifen.

Jedoch liegt (nicht nur) der historische Materialismus tief unter den eigenen Trümmern verschüttet. Eine wirklich kritische Theorie, eine, die das gesellschaftliche Ganze meint und nicht nur die Modernisierung des "Immergleichen", existiert - zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung - nicht mehr. Wir sollten uns daher nicht scheuen, bei der Suche nach Wegen zur Beendigung des Ausnahmezustandes die Hilfe jenes Zwerges zu bemühen, der "heute klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht blicken lassen darf."

Literaturverzeichnis

Angehrn, Emil 1991: Geschichtsphilosophie, Grundkurs Philosophie Bd.15, Stuttgart

Benjamin, Walter 1974: Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Werke, Bd.1, T.2, S.691-704, Frankfurt/Main

Benjamin, Walter 1974a: Über den Begriff der Geschichte (Anmerkungen), in: Gesammelte Werke, Bd.1, T.3, S.1223-1266 Frankfurt/Main

Gagnebin, Jeanne-Marie 1978: Zur Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, Erlangen

Habermas, Jürgen 1972: Bewußtmachende oder rettende Kritik - die Aktualität Walter Benjamins, in: Unseld, Siegfried: Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt/Main     

Hug, Heinz 1989: Kropotkin zur Einführung, Hamburg       

Landauer, Gustav 1974: Revolution, Berlin  

Löwy, Michael 1997: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Berlin

Marx, Karl und Engels, Friedrich 1958: Die deutsche Ideologie. In: MEW 3, Berlin

Rocker, Rudolf 1980: Das Machtprinzip in der Geschichte, Aufsatzsammlung, Bd.1, Frankfurt/Main

Rocker, Rudolf 1980a: Wissenschaft und Geschichtsauffassung, Aufsatzsammlung, Bd.1, Frankfurt/Main

Fußnoten

[1] Marx 1958, S.18

[2] Allein dieser Begriff der historischen Mission deutet darauf hin, daß auch das Marxsche Denken von religiösen Elementen beeinflußt ist. Ebenso kann die revolutionäre Beendigung der Vorgeschichte durch den Kommunismus als eine säkularisierte Form des Erlösungsgedankens betrachtet werden.

[3] Benjamin 1974a, S.1231f

[4] Benjamin 1974a, S.1237

[5] Gagnebin 1978, S.16

[6] Horkheimer/Adorno, zitiert nach: Angehrn 1991, S.171

[7] Löwy 1997, S.108

[8] Landauer, zitiert nach: Löwy, 1997, S.185

[9] Benjamin 1974, S.694

[10] Gershom Scholem, zitiert nach: Löwy 1997, S.28

[11] Löwy 1997, S.274

[12] Martin Buber, zitiert nach: Löwy 1997, S.72

[13] Rocker 1980, S.175

[14] Landauer in "Aufruf zum Sozialismus", zitiert nach: Löwy 1997, S.177

[15] Landauer 1974, S.122

[16] Landauer 1974, S.9

[17] Rocker 1980a, S.188

[18] Benjamin 1974a, S.1246

[19] Benjamin in "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik", zitiert nach: Löwy 1997, S.135f

[20] Benjamin 1974, S.704

[21] Habermas 1972, S.189

[22] Ebenda, S.207

[23] Benjamin 1974a, S.1231

[24] Landauer 1974, S.42

[25] Benjamin 1974a, S.1246

[26] Ebenda, S.1242

[27] Vgl. Angehrn 1991, S.125