Matthias Becker

Vaterlandslose Pfälzer

Der Widerstand gegen Nationalhelden der verschiedensten Gattungen

Wer sich am 31. August 1921 sich am späten Nachmittag in Speyer vor das Regierungsgebäude wagte, lief Gefahr, einen bayrischen König mitsamt Bilderrahmen auf den Kopf zu bekommen. In den pfälzischen Städten hatten Demonstrationen gegen den Mord an Matthias Erzberger durch die rechtsradikale Organisation Consul stattgefunden. In Speyer kam es im Laufe der Demonstration zu einer regelrechten antibayrischen Revolte. Nach Abschluss der Kundgebungen drang ein Teil der Demonstranten ins Regierungsgebäude ein, riss die Bilder der bayrischen Herrscher von den Wänden, zerstörte sie und warf sie auf die Straße. In der Pfalz der 20er Jahre, damals noch ein Teil von Bayern, scheint sich das Volk nicht als konservative „Ordnungszelle des Reiches“ gefühlt zu haben.

Dieser Artikel ist keine historische Abhandlung oder Aufarbeitung. Geschichte lässt sich nicht einfach abhandeln, außerdem wäre ich mit einer solchen Aufgabe überfordert. Ich will hier Anekdoten aus einer verschütteten Lokalgeschichte erzählen, Anekdoten, die aber zeigen, welche Qualität die politischen Kämpfe in der Pfalz der 20er Jahre hatte. Geschichten aus der Geschichte der pfälzischen Linksradikalen …

Arbeiterwiderstand gegen den Kapp-Putsch

Zurück ins Jahr 1921: Der Mord am Zentrumspolitiker und Reichstagsabgeordneten Erzberger war das Ergebnis der Hetze gegen sogenannte Novemberverbrecher und Erfüllungspolitiker: Erzberger war ein Unterzeichner des Waffenstillstands im November 1918. Die Spur der Mörder führte nach München, nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik ein Tummelplatz rechtsradikaler Freikorpsverbände, damals regiert von Gustav Ritter von Kahr, strammer Monarchist und erklärter Republikfeind. Der sogenannte Speyrer Bildersturm war quasi eine militante Protestaktion gegen dessen revanchistische Haltung.

Eine Woche danach, am 7. September, wurden vier der Bilderstürmer mitten in der Nacht von der Polizei verhaftet. Schon in den frühen Morgenstunden versammelten aus Protest gegen die Verhaftungen Arbeiter vor dem Rathaus. Nachdem die Forderung nach Freilassung der Gefangenen vom Bürgermeister und vom stellvertretenden Regierungspräsidenten Chlingensperg kategorisch abgelehnt wurde, waren die Demonstranten nicht mehr zu halten. Das Rathaus wurde belagert und besetzt. Es kam zu Schlägereien mit Beamten, Chlingensperg wurde bedroht. Nur mit Mühe gelang es der Polizei, das Rathaus zu räumen; sie blieb aber im belagerten Rathaus eingeschlossen. Einige Protestierer wurden durch Polizeischüsse verletzt. Erst am Abend zerstreute sich die Menschenmenge. Ihr vordergründiges Ziel hatte sie erreicht: um dem Aufruhr den Wind aus den Segeln zu nehmen wurden am nächsten Tag die vier Verhafteten auf freien Fuß gesetzt.

Auch in Ludwigshafen kam es zu großen Demonstrationen gegen die rechtsradikalen Umtriebe in der Weimarer Republik, die erste mit 30.000 Teilnehmern, die zweite mit 50.000. In allen Betrieben, zuerst in der BASF, wird die Arbeit niedergelegt. Bei einer Kundgebung wurde ein 5-Punktekatalog verabschiedet, in dem sie die Säuberung der staatlichen Institutionen von „reaktionären, konterrevolutionären Elementen“ verlangten. Eine Gruppe Demonstranten erregte große Aufmerksamkeit, weil sie einen Galgen mit sich führte, an dem eine Puppe in Frack und Zylinder baumelte. So wurde im „antifaschistischen“ Widerstand jener Tage schon etwas von der Radikalität der späteren Erwerbslosenbewegung vorweggenommen.

Die BASF organisiert das Glück ihrer Arbeiter lieber selbst

Einen wesentlichen Beitrag für die Entstehung dieser Bewegung leistete jener Konzern, der heute großzügig Gelder für kulturelle Großveranstaltungen verteilt: die BASF. Damals war sie weniger großzügig. Am 29. November 1922, um 12 Uhr mittags, entließ Generaldirektor Bosch alles, was nach der verheerenden Explosionskatstrophe in Oppau 1921 von der Belegschaft noch lebte. Denn schließlich musste er zeigen, wer Herr im Haus ist, Republikgefasel hin oder her.

Zuerst hatte sich die Direktion geweigert, mit einer von der BASF-Werksversammlung gewählten Kommission in Verhandlungen über Lohnerhöhungen einzutreten – die Leute sollten endlich mal begreifen, dass man sich einschränken muss, wenn das Geld weniger wert ist. Dann ergab sich eine gute Gelegenheit für eine Radikalkur: drei kommunistische Betriebsräte, Hauptdrahtzieher der ewigen Unzufriedenheit, wollten zum Reichsbetriebsrätekongress nach Berlin – worauf sie rechtlich irgendwie auch einen Anspruch hatten. Die Direktion sagte sich, mal sehen, was passiert, und widerrief den infolge einer Unachtsamkeit bereits gewährten Urlaub. Die drei fuhren trotzdem und wurden fristlos entlassen. Das war der Auslöser für einen mehrwöchigen wilden Streik in Ludwigshafen, vor allem in der BASF, die tieferen Ursachen waren einerseits die wachsende Teuerung, die auch an anderen Orten zu Arbeitskämpfen und sozialen Unruhen führte, andererseits der Angriff der Großindustrie auf die revolutionären Errungenschaften wie den Achtstundentag.

Für einen Machtkampf in Ludwigshafen hatte die Linke allerdings die schlechteren Karten. Nach dem ersten Nachkriegsboom war der Export zurückgegangen, der Streik kam also für die BASF-Direktion genau zur richtigen Zeit. Die sozialdemokratischen Gewerkschaften gingen sofort auf Distanz und überließen die Führung der KPD, die BASF sperrte Zehntausende Arbeiter aus. Das bittere Ergebnis nach drei Wochen Arbeitskampf: mindestens 1500 Arbeiter wurden nicht wieder eingestellt, die Wiedereingestellten verloren alle Rechte aus dem vorherigen Arbeitsverhältnis wie Urlaubs- und Prämienansprüche, Abschaffung der gewählten Vertrauensleute, verstärkte innerbetriebliche Disziplinierung. Wegen dieser kläglichen Niederlage unter kommunistischer Führung verzeichneten die Anarchosyndikalisten (Freie Arbeiter Union Deutschlands FAUD) und Unionisten einen regen Zulauf zu ihren Organisationen. Auf jeden Fall bedeuteten Verlauf und Ergebnis des Streiks eine Radikalisierung der Arbeiterschaft in Ludwigshafen.

Eine Anekdote am Rand: im Januar 1923 flatterte der Stadtverwaltung und der Direktion der BASF ein Schreiben auf den Tisch, in dem die Ausrufung der „Freien Pfalz“ angedroht wurde für den Fall, dass die nach dem Streik entlassenen Arbeiter nicht wieder eingestellt würden. Wenig später, im März 1923, meldete sich bei der Abwehrstelle in Heidelberg (eine antiseparatistische staatliche Einrichtung) ein entlassener Arbeiter aus Ludwigshafen und erzählte eine „abstruse Geschichte über Putschvorbereitung in der Hemshöfer Anarchoszene“. Die Herren Geheimdienstler scheinen ihm allerdings nicht recht geglaubt zu haben, jedenfalls gingen sie der Sache nicht weiter nach.

Die Erwerbslosen

Im Mai 1923 sind in der Pfalz 51.340 Personen erwerbslos gemeldet, die Inflation rast. Dazu kam, dass es praktisch zwei Klassen Erwerbsloser gab: Erwerbslose, die auf Grund des passiven Widerstands (gegen die französische Besatzung) ihre Arbeit verloren, und Erwerbslose, die schon vorher keine hatten! Die letzteren hatten lediglich Anspruch auf die gesetzliche Erwerbslosenfürsorge, die sich nach Bedarfssätzen richtete, und wurden für geringe Unterstützungssätze zu Notstandsarbeiten wie Wege anlegen, Dämme bauen etc. herangezogen. Die anderen wurden mit Geldern der staatlichen Rhein-Ruhr-Hilfe unterstützt, das heißt sie bekamen mindestens zwei Drittel ihres Gehalts weiter bezahlt, auch das wenig genug. Die Verteilung der Rhein-Ruhr-Hilfe war außerdem für die verschiedensten Interpretationen offen, so gingen bestimmte Betriebe leer aus und entließen ihre Arbeiter, andere wiederum konnten sich bereichern und gleichzeitig ihre unproduktiven Arbeiter loswerden. Oft kamen die Erwerbslosengelder verspätet und waren deshalb durch die galoppierende Inflation teilweise schon wieder wertlos.

Aufgrund dieser Problematik entstand unter Führung der radikalen Linken – Kommunisten, Anarchosyndikalisten, Unionisten – im besetzten Gebiet eine Erwerbslosenbewegung. Erwerbslosenräte bildeten sich, die in einen scharfen Gegensatz zur Erwerbslosenfürsorge in den Kommunen gerieten. Diese Erwerbslosenfürsorge sollte unter Mitwirkung der Gewerkschaften die Versorgung mit Reichsgeldern gewährleisten. Am Sonntag, den 8. April 1923, fand in Kaiserslautern ein pfälzischer Erwerbslosenkongress statt. Eingeladen hatten KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) und AAU (Allgemeine Arbeiterunion), die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften blieben der Veranstaltung fern. Der Kongress geriet zu einer einzigen Anklage gegen die sozialtechnokratische Politik der SPD-Funktionäre: „Wenn ihr einen aus euren Reihen in den Ledersessel setzt, dann denkt und fühlt er nicht mehr mit euch.“ Beklagt wurde vor allem die schleppende Auszahlung der Gelder, auch die zwangsweise Heranziehung zu Notstandsarbeiten wurde kritisiert. Man müsse die Sache selbst in die Hand nehmen. Ein gewisser Georg Kunz aus Ludwigshafen agitierte besonders radikal. Für ihn stiegen mit der Aussicht auf einen Bankrott des Reiches auch die Chancen für eine Revolution.

Ludwigshafen entwickelte sich in den folgenden Monaten zum Zentrum der pfälzischen Erwerbslosenbewegung, in der der mitreißende politische Redner Kunz eine immer wichtigere Rolle spielte (Die Historiker Gräber und Spindler sprechen in diesem Zusammenhang von Ludwigshafen als einer Stadt „mit einer selbstbewussten, gelegentlich zu Ausschreitungen neigenden Arbeiterschaft und einer Erwerbslosenbewegung mit vergleichsweise hohem Organisationsgrad“. Das ist lange her …) Für die Behörden war jener Kunz kein unbeschriebenes Blatt: die Ludwigshafener Polizei identifizierte ihn als den 1888 in Marseille geborenen Georg Victor Kunz, außerehelicher Sohn des dortigen deutschen Generalkonsuls und seiner Hausdame, einer geborenen Kunz. Nach dem I. Weltkrieg tauchte er als Agitator der KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands) auf. Die Partei hatte sich 1920 links von der KPD abgespalten und zog vor allem in Berlin den überwiegenden Teil der KPD-Mitgliedschaft zu sich herüber. Kunz soll ein „Führer der Reichsleitung“ der „Illegalen Kampforganisation“ dieser Gruppe gewesen sein. Im Herbst 1922 tauchte er in Ludwigshafen auf, jetzt als Agitator der AAU, die sich aus der linksradikalen Austrittsbewegung aus den Gewerkschaften im Frühjahr 1920 gebildet hatte und die revolutionäre Organisierung der Arbeiter auf Betriebsebene propagierte. Sie arbeitete politisch eng mit der KAPD zusammen, hatte aber im direkten betrieblichen Kampf viel mit anarchosyndikalistischen Vorstellungen gemein.

Die Radikalisierung der Erwerbslosenbewegung machte nicht nur den deutschen Behörden Sorgen. Auch die traditionellen Arbeiterparteien SPD und KPD, zusammen mit den Gewerkschaften, hatten Angst, die Linksradikalen könnten ihnen bei den Erwerbslosen den Rang ablaufen. Noch im Frühjahr hatten Unionisten und Kommunisten auf Erwerbslosenkongressen in Kaiserslautern und Ludwigshafen gemeinsam die sozialdemokratischen „Ledersessel“-Funktionäre beschimpft. Jetzt zeigten sie in einem gemeinsam mit der SPD und den Gewerkschaften verfassten Flugblatt mit dem Finger auf „gewisse Zusammenhänge zwischen den syndikalistischen Machenschaften und den landesverräterischen Umtrieben der rheinischen Sonderbündler“ (=Separatisten). Dafür gab es Prügel für die Flugblattverteiler – ausgeteilt von syndikalistischen Arbeitern.

Die KPD hatte nämlich unverhofft ihr Herz für den Nationalstaat Deutschland entdeckt – auch im Interesse der sowjetischen Westpolitik, die das UdSSR-feindliche Frankreich nicht zu stark werden lassen wollte. So reihten sich die Kommunisten in die deutsche Abwehr der französischen Besatzung ein, eine Koalition von rechts außen bis fast links …

„Sie wissen es genau – Sie, die Nationalhelden der verschiedensten Gattung kennen uns, wissen nur zu gut, dass wir mit einem Separatisten-Bischoff (bürgerlicher Pfalzseparatist) nichts gemein haben.“ So meldete sich „Der revolutionäre Vollzugsrat der Erwerbslosen des besetzten Gebietes“ in Ludwigshafen Ende August 1923 zu Wort. Das Gremium war als „revolutionärer Aktionsausschuss“, getragen von KPD und AAU, im Frühjahr 1923 auf einem Erwerbslosenkongress in Ludwigshafen gegründet worden und wurde immer mehr zur Basis der Syndikalisten und damit des unionistischen Agitators Georg Kunz. Mit bürgerlichen Separatisten wie der Smeets-Gruppe wollten sie nichts zu tun haben, schließlich hatten sie wesentlich weiter gesteckte Ziele: „die deutsche Räterepublik als nächste Etappe der Weltrevolution“! Im Sommer 1923 forderten sie auf Versammlungen und Demonstrationen, an denen mehrere Hundert Anhänger teilnahmen, die „Brechung des passiven Widerstands“ und die „Aufrichtung der Arbeiterregierung“. Vor allem aber ihre direkten Aktionen gegen Beamte der Erwerbslosenfürsorge, die auch schon mal vor ein „Volkstribunal“ zitiert wurden, verschafften ihr Sympathien.

Das Zitat beleuchtet auch das Spannungsfeld zwischen französischen Besatzern, deutschen Behörden und den pfälzischen Linksradikalen. Für Kunz, da vertrat er anarchosyndikalistische Grundpositionen, lag die Ursache der Ruhrbesetzung in dem Versuch des deutschen Kapitals, durch Sabotage der Erfüllungspolitik (sprich: der Zahlung von Reparationen an den ehemaligen Kriegsgegner Frankreich) den Friedensvertrag von Versailles erneut aufzurollen. Dies sei aber eine illusionäre Perspektive und die Lostrennung des Rheinlands vom Reich nur eine Frage der Zeit. Für den revolutionären Arbeiter könne es keine Einheitsfront mit dem deutschen Kapital gegen das französische Kapital geben, sondern nur den Klassenkampf der deutschen Arbeiter gemeinsam mit den französischen Arbeitern gegen die Kapitalisten beider Länder.

Mit dieser Verweigerung des nationalen Schulterschlusses konnten die Anarchosyndikalisten und Unionisten leicht in die Nähe des Separatismus gerückt werden. Tatsächlich hatten anarchosyndikalistische Arbeiter keine Skrupel, unter französischer Regie zu arbeiten (z. B. bei der Eisenbahn, die unter französischer Verwaltung stand), viele sind im Laufe des Sommers 1923 in die lokalen separatistischen Organisationen eingetreten. Von Kunz und seinen Ludwigshafener Genossen aber konnte man aber bis zum Ende des passiven Widerstands nur Distanzierungen von separatistischen Bestrebungen hören. In konsequenter Befolgung anarchistischer Grundsätze wollten sie eben überhaupt keinen Staat, auch keinen rheinisch-republikanischen oder freien pfälzischen.

Der französischen Besatzungsmacht brachten sie allerdings unverdient großes Vertrauen entgegen, zumindest anfangs. Als 1921 das Speyrer Rathaus gestürmt wurde, riefen einige Demonstranten „Heute haben wir die Franzosen auf unserer Seite“. Hartnäckig hielt sich in linksradikalen Kreisen das Gerücht von französischen Sympathien für ihre Sache.         

Die allerdings hatten ein rein instrumentelles Interesse an der Erwerbslosenbewegung: sie förderte zwar aufrührerische Bewegungen wie die separatistische oder die radikaler Erwerbsloser als Mittel zur Destabilisierung, aber sicher nicht mit dem Ziel, ihnen die Macht in der Pfalz auszuliefern. Der französische General DeMetz erklärte öffentlich kategorisch: „Ich wünsche keinen Kontakt zu radikalen Arbeiterführer!“ Warum sollte er auch? Frankreichs Regierung unter Pointcaré hatte sicher kein Interesse an einer kommunistischen oder gar anarchistischen Räterepublik an ihrer Ostgrenze. Die Unruhe, die die nützlichen Idioten Kunz und Genossen verbreiteten, sollte nur die etablierten politischen Kräfte des Rheinlands in die Arme der Besatzungsmacht treiben, die dann im Notfall hilfreich eingriff.

Und das tat sie! Schon 1921, während der wilden Streiks, hatte französisches Militär alle Arbeiterkundgebungen verboten, Zuwiderhandlungen wurden mit dem Kriegsgericht bedroht. Als sich im Herbst 1923 die sozialen Kämpfe verschärfen, sind sie der rettende Strohhalm für die deutschen Machthaber. Anlässe dafür gab es genug: in Neustadt und Frankenthal werden Rathäuser besetzt, in Pirmasens ziehen Erwerbslose durch die Innenstadt und plündern Geschäfte. In Zweibrücken zwingen sie Ladenbesitzer zur verbilligten oder kostenlosen Abgabe ihrer Waren, meist Lebensmittel. Zu Teuerungsunruhen, wie das genannt wurde, kommt es im ganzen Reich. Und in Ludwigshafen?

„Schon seit Wochen wird unter den Erwerbslosen der Gedanke verbreitet, die Polizei zu entwaffnen und sich in den Besitz der öffentlichen Gebäude zu setzen“, so ein Bericht der Stadtverwaltung. Georg Kunz habe kürzlich, bei einem Sturm von Tausenden seiner Anhänger auf das Stadthaus Nord, davon gesprochen: „Schont dieses Haus, es ist ein Volkshaus, in dem wir in wenigen Tagen regieren werden!“ Nicht nur in Ludwigshafen war der Umsturz geplant, der überörtliche „Revolutionäre Vollzugsrat der Erwerbslosen“ hielt Kontakt zu Genossen in der übrigen Pfalz und in Hessen. Dieser „Vollzugsrat“ sollte die Keimzelle der künftigen roten Republik werden.

Kunz und zwei seiner Genossen werden daraufhin verhaftet, Diebstahl und Hehlerei wird ihnen vorgeworfen. Die Verhandlung am 6. August wird von Hunderten Sympathisanten gesprengt, die Angeklagten werden befreit. Ende August steht wegen einer Verzögerung bei der Auszahlung der Unterstützungsgelder wieder der Sturm des Stadthauses bevor, da greift die Polizei ein. Es gelingt ihr, die Besetzung zu verhindern, das Stammlokal der Bewegung wird geschlossen. Kunz und zwei weitere Erwerbslose werden verhaftet. Der Vollzugsrat versucht vergeblich, sie zu befreien. In dieser Nacht wird in den Straßen Ludwigshafens um die Macht in der Pfalz gekämpft. Obwohl die Aufständischen angeblich von etwa tausend Kämpfern aus dem Frankfurter Raum unterstützt werden, bleibt die Polizei Sieger.

Das war Höhepunkt und damit Beginn des Niedergangs der pfälzischen Erwerbslosenbewegung. Anfang September „untersagt“ der französische General DeMetz „alles, was Arbeitslose veranstalten könnten oder wollen.“ Das Verbot ist nicht auf Ludwigshafen beschränkt, in der ganzen Pfalz werden „Versammlungen, Aufläufe und Zusammenrottungen“ von Erwerbslosen „zur Vorbeugung von Unruhen“ verboten. Sie hatten ihre Aufgabe erfüllt. Erfolgreich waren sie dabei nicht.


Chronik

8. November 1918

Gründung des Ludwigshafener Arbeiter- und Soldatenrats

6. – 8. Dezember 1918

Französische Truppen besetzen Ludwigshafen.

1. Juni 1919

In den französischen Besatzungsgebieten wird die „Rheinische Republik“ ausgerufen.

29. August 1919

Die Postangestellten Ludwig See und Walter Funk werden von Separatisten erschossen, als diese das Postamt besetzen wollen.

13. März 1920

Anlässlich des Kapp-Putsches verlassen die Arbeiter ihre Betriebe.

18. Juni 1920

Generalstreik gegen die Nichtfreigabe von drei von den Franzosen verhafteten Arbeiterführern.

31. August 1921

In Speyer wird aus Protest gegen die revanchistische Haltung Bayerns das Rathaus gestürmt und umdekoriert.

24. August 1923

Der „Revolutionäre Vollzugsrat der Erwerbslosen“ versucht, die Macht zu übernehmen. In den nächtlichen Straßenkämpfen bleibt die Polizei Sieger.

3. November 1923

Die beiden Polizisten Friedrich Heene und Karl Krämer werden von Angehörigen des Werkschutzes der Ludwigshafener Eisenbahnwerkstätten, wahrscheinlich radikale Erwerbslose in der Nacht zum 4. erschossen.

23. November 1923 bis 6. März 1924

Ludwigshafen ist von Separatisten besetzt, die Erwerbslosenbewegung wird unterdrückt.