Matthias Becker

Der nationalsozialistische Mustergau

Die nationale Revolution in der Rhein-Pfalz

„Der Sozialismus der dummen Kerle“ – mit diesem Ausspruch kennzeichnete der Sozialdemokrat August Bebel den Antisemitismus seiner Zeit, jene dummen Kerle, die ihre wirtschaftliche Not und Unterdrückung „den Juden“ anlasteten.

Die NSDAP in ihrer Anfangszeit hatte neben ihren rassistischen und nationalistischen Parolen auch einiges an antikapitalistischen, pseudosozialistischen Inhalten zu bieten, gleichzeitig aber auch eine radikale Ablehnung von Kommunismus, von jeder Bewegung, die das Privateigentum in Frage stellte.

Verständlich wird diese Propaganda, wenn wir die soziale Situation ihrer Anhänger betrachten. Der kleine Mittelstand war überproportional vertreten, und dieser wurde von den Monopolen der reichsdeutschen Wirtschaft stark unter Druck gesetzt. Der Historiker Reinhard Kühnl schreibt: „Die antikapitalistischen Stimmungen erreichten bei manchen Gruppen der faschistischen Bewegung eine beachtliche Radikalität.“ Das Programm der NSDAP von 1920 verlangte „die Schaffung eines gesunden Mittelstandes und seine Erhaltung. Kommunalisierung der Großwarenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende bei Lieferungen an den Staat, die Länder und Gemeinden, die Verstaatlichung aller bereits vergesellschafteten (Trusts) Betriebe und die Gewinnbeteiligung an Großbetrieben.“ Noch schärfer wurden die antikapitalistischen Forderungen vom linken Flügel der Partei formuliert: „Der Kapitalismus ist schuld an unserem Elend und muss daher vernichtet werden. Er ist eine Klassenherrschaft, die es duldet, dass eine kleine Klasse von Staatsbürgern über das wirtschaftliche Leben und Sterben“ gebietet. Eine weitverbreitete Forderung mit ähnlicher Ausrichtung war „die Brechung der Zinsknechtschaft“, gerichtet gegen die Macht der Banken.

Wie blendend sich die Zinsknechte und Zinseintreiber später verstehen, werden wir noch erleben. In Ludwigshafen wird das besonders in der Beziehung der Faschisten zur örtlichen Zweigstelle des deutschen Chemiemonopols BASF und zum damals größten Chemieverbund der Welt IG Farben deutlich.

Schon im Sommer 1930 wurde die Gruppe um Otto Strasser und den Kampf-Verlag, die die antikapitalistischen Kräfte in der NSDAP repräsentierte, aus der Partei ausgeschlossen. Nach der Machtübernahme großmaulte der SA-Führer Ernst Röhm noch: „Wir haben keine nationale, sondern eine nationalsozialistische Revolution gemacht, wobei wir besonderen Wert auf das Wort ‚sozialistisch‘ legen.“ Solche Parolen beunruhigten die Geldgeber Hitlers, also wurden die Anhänger Röhms in der SA und er selbst 1934 durch die neuaufgebaute SS liquidiert – der sogenannte Röhm-Putsch. (Übrigens gibt es auch in Ludwigshafen ein prominentes Opfer dieser Aufräumarbeiten: der bekannte Nationalist Dr. Edgar Jung, der Sekretär von Papens.)

Die faschistischen Funktionäre pflegten aber weiter einen pseudoradikalen Wortschatz mit sozialistischen Phrasen, entweder aus echter Dummheit oder um ihre Anhängerschaft zufriedenzustellen. Die soziale Demagogie war auch deshalb glaubwürdig, weil einige faschistische Führer aus dem Volk kamen: Adolf Hitler, der Sohn eines kleinen Beamten, Gelegenheitsarbeiter und im Krieg nur Gefreiter (später übrigens gegenrevolutionärer Reichswehrspitzel), konnte den „kleinen Leuten“ durchaus glaubhaft machen, dass er einer der ihren war.

Ein weniger prominentes Beispiel ist der Nazigauleiter der Pfalz Josef Bürckel. Er gewann Sympathien „durch sein unkompliziertes pfälzisches Naturell – Bürckel sprach Dialekt, war jovial im Umgang und beeindruckte durch seine Trinkfestigkeit.“ Er gehörte wie die SA und die politische Organisation der NSDAP in der Pfalz zum „linken Flügel“ der Partei.

Die Pfalz als nationalsozialistischer Mustergau

Wegen der französischen Besetzung der Pfalz waren die Nazis in der Weimarer Republik vorgeblich in einer eigenen Partei organisiert, in der „NSDAP der Pfalz“. Diese formelle Unabhängigkeit war taktisch bedingt, um von den französischen Militärbehörden zugelassen zu werden. Am 9. April 1926 wurde sie mit der Mutterpartei vereinigt.

Ihre Propaganda war einerseits stark auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Pfalz abgestellt, andererseits trugen sie einen deutlichen antifranzösischen und antiseparatistischen Akzent. Regelmäßig wurden „politische Feiern zum Gedenken an die großen Kampftage und Ereignisse der Separatistenzeit“ veranstaltet.

Gauleiter Bürckel war damals selbst tatkräftig an der Bekämpfung der Pfälzer Separatisten (und Linksradikalen) beschäftigt: 1923 gehörte Bürckel zu einer antiseparatistischen Geheimorganisation in Pirmasens; auch als im Februar 1924 15 Separatisten in Speyer gelyncht werden, ist er beteiligt. Der oben erwähnte Faschist Dr. Jung aus Ludwigshafen ist ein weiteres Beispiel: er selbst erschoss 1924 den einflussreichen bürgerlichen Separatisten Heinz Orbis.           

Nach dem Ende des I. Weltkrieges war die Pfalz als Grenzland in einer wirtschaftlich besonders schwierigen Lage. Inflation und die französische Besetzung führten besonders die bäuerlich geprägten Regionen zu stetig wachsender Verelendung. So blieb die Region bis zum Ende der Weimarer Republik ein Notstandsgebiet mit hoher Arbeitslosigkeit, einem dramatischen Rückgang der gewerblichen Produktion und sinkender Ertragslage der Landwirtschaft.

Die wachsende Verelendung machte die Propaganda der Faschisten gegen „das demokratische System“, von dessen Demokratie sowieso nie viel zu merken war, attraktiv. Die Pfalz galt schon in der Weimarer Republik als vorbildliche Mustergau: noch vor der Machtübernahme waren 18.000 Parteigenossen eingetragen, 1935 waren es über 35.000. Seit 1930 schnitt die NSDAP bei Wahlen immer wesentlich besser ab als im übrigen Bayern und im Reich. Dazu kam, dass die Linken in der ländlichen Pfalz kaum Einfluss erlangen konnten. Auch die explosive (und kurzlebige) Verbindung von linksradikalem Antinationalismus und Separatismus blieb auf die industriellen Zentren beschränkt.

Bei folgenden Ausführungen ist also zu beachten, dass Ludwigshafen als städtisches Zentrum kaum mit der Situation in der ländlichen Pfalz verglichen werden kann. Hier war proletarischer Antifaschismus wesentlich stärker verbreitet, was sich auch in den Wahlergebnissen ausdrückt: selbst bei den Märzwahlen 1933, als die Nazis ihr Terrorsystem schon größtenteils installiert hatten, lag die NSDAP mit 34,7% mit fast 10% unter ihrem Reichsdurchschnitt. (Organisationsgeschichtlich ist die Kandidatur einer „Liste Linke Kommunisten“ interessant, die bei den Stadtratswahlen 1929 3% der Stimmen bekam. Das linksradikale Sammelbecken, hauptsächlich KPD-Dissidenten und ehemalige KAPD-Aktivisten, stellte bis zur faschistischen Machtübernahme zwei Stadträte.) Gerade für Widerstandsaktionen war die städtische Situation besser geeignet als die kleinen ländlichen Gemeinden mit ihrer geringen Bevölkerungsdichte und ständigen sozialen Kontrolle.

Ludwigshafener Nazis

Natürlich war die NSDAP auch in Ludwigshafen vor allem eine Mittelstandspartei: Unter den 25 NSDAP-Stadträten im Jahr 1933 findet sich nur ein Facharbeiter, ein Bauer und ein Angestellter, dafür gleich sieben Kaufleute! Die Anhängerschaft der Faschisten war fast ausschließlich kleinbürgerlich-mittelständisch, unter den Funktionären sind aber wegen der IG-Werke in Ludwigshafen und Oppau sehr viele Akademiker. Bereits 1922 waren einige angestellte Akademiker der BASF in der Mannheimer Ortsgruppe der NSDAP aktiv, durch die wirtschaftliche Stabilität und das Verbot der Partei ging ihre Aktivität bis zum Beginn der 30er Jahre zurück, um sich dann massiv bemerkbar zu machen: bei der Machtübernahme stellten sie 41,7% der Funktionäre. Der sogenannte Akademikerflügel verfügte ab diesem Zeitpunkt über erheblichen Einfluss in der Lokalpolitik der Faschisten.

Auf der anderen Seite standen die „alten Kämpfer“, hauptsächlich in der Ludwigshafener SS organisiert, denen die Politik des Akademikerflügels gegen Bürgerliche und Unternehmer viel zu zahm war.

Bluthunde an der Macht

Am 30. Januar marschiert SA und SS in einem Fackelzug durch die Ludwigshafener Arbeiterbezirke. Es finden erste Übergriffe statt. Am 10. März hissen die Nazis die Hakenkreuzfahne auf dem Oppauer Rathaus, als Zeichen der „siegreichen nationalen Revolution“. der Sozialdemokrat Hüter versucht, sie von der Fahnenstange herunterzuholen, und wird von dem SA-Mann Schulze mit drei Kugeln erschossen. Am 20. März ist eine der ersten „Amtshandlungen“ des Gauleiters Bürckel die Anordnung, sämtliche SPD- und KPD-Bürgermeister zur Niederlegung ihrer Ämter zu zwingen. Schon am Monatsanfang sind die wichtigsten Ludwigshafener Politiker von KPD und SPD ins Frankenthaler Gefängnis gesperrt worden.        

Der Terror gegen die Linke war in Bayern (und deshalb auch in der angeschlossenen Pfalz) gründlicher als in den anderen Reichsteilen. In der Zeit von 11. bis zum 13. März waren nahezu 50.000 SA und SS als Hilfspolizisten im Einsatz, im März werden 2.000 Menschen in Schutzhaft genommen, im April sind es schon 5.000. Obwohl sich die Repression hauptsächlich gegen Kommunisten und Sozialdemokraten richtete, waren auch bürgerliche Kritiker des Systems nicht sicher: in Rheingönnheim wurde der Pfarrer Caroli in der Nacht des 26. Juni vor seinem Pfarrhaus von drei SA-Männern überfallen und bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Der Ludwigshafener Christ und Nazigegner wurde 1935 aus seiner Gemeinde gedrängt (vor seinem Haus gab es Kundgebungen gegen ihn mit 1.000 Teilnehmern!) und 1942 in Dachau ermordet. Dieses Konzentrationslager gab es schon seit dem 20. März. In der Pfalz kursierte schnell der Spruch: Lieber Gott, mach mich stumm, damit ich net nach Dachau kumm …

Von Dichtern und Denkern

Am 13. Mai veranstalten die Faschisten in Oppau eine Bücherverbrennung, mehr als 500 Bände der örtlichen Volksbibliothek werden verbrannt. Die Flammen fressen neben den Werken bekannter Autoren wie Feuchtwanger, Brecht, Marx, Freud und Geistesverwandtem auch die Gedichtbände der Laundauer Autorin Marta Saalfeld. 

Auch wenn sie kaum ein Leser kennen wird, ist ihre Geschichte doch erwähnenswert; vor allem, weil sie effektvoll von einer anderen Pfälzer Biographie kontrastiert wird: die des Neustädter Dichters und Lokalpolitikers Kurt Kölsch (SPD), gestorben 1968 und von der Stadt Neustadt an der Weinstraße mit zahlreichen Ehrungen bedacht.

Im Gegensatz zu Marta Saalfeld, die seit der Machtübernahme „Veröffentlichungsverbot“ hatte und nur in die Emigration das III. Reich überleben konnte, hatte Kölsch weniger Schwierigkeiten mit dem einen Volk und dem einen Führer. Ja, der Sozialdemokrat war sogar „Gaukulturwart“ und förderte nach Kräften die deutsche Kultur. Zum Beispiel bei einer Versammlung der NSDAP im Pfalzbau, als er der Zuhörerschaft die tiefere Bedeutung der deutschen Volksmärchen erklärt. Unter der Überschrift „Das ist die Fratze des ewigen Juden!“ berichtet die örtliche Nazigazette folgendes:

„Kurt Kölsch verstand es denn, die deutschen Märchen in ihrer tieferen Bedeutung als Sendbote geschichtlicher Ereignisse auszuwerten. „Dornröschen“ wurde in seiner packenden Darstellung der Schlaf des deutschen Volkes 1918 – 1933 und sein Erwachen am Tag der nationalen Erhebung. „Rumpelstilzchen“ und „Der Wolf und die 7 Geißlein“ erstand vor dem Zuhörer als der Kampf der deutschen Seele gegen das Judentum, das als Wolf oder heimtückischer Kobold dargestellt wird. (…)

(Der Deutsche) wäre aus der Geschichte ausgelöscht worden, wenn er sich nicht auf die Reinerhaltung seiner Art besonnen hätte. Nachdem Gaukulturwart Kölsch sich noch mit dem zersetzenden Einfluss der Juden in allen Bereichen von Kunst und Literatur auseinandergesetzt hatte, kam er auf den Gottesbegriff zu sprechen.“

Von der einen Arbeiterpartei zur nächsten ist Kölsch später gewandert; verständlich, denn Arbeit ist „dem nordischen Menschen im Gegensatz zum jüdischen keine Last, sondern heilige Bestimmung“, wie er an diesem Abend ausführt. Nein, seine Bücher wurden nicht verbrannt…

Das rote Ludwigshafen marschiert

nach Dachau oder in die Emigration nämlich. Auch in dieser Stadt war der Antifaschismus der großen Arbeiterparteien SPD und KPD uneinig und isoliert. Im Februar demonstrierten noch 20.000 LudwigshafnerInnen unter der Parole „Ludwigshafen bleibt rot!“ gegen Hitler. Wo waren sie jetzt? Was sollten die ArbeiterInnen Ludwigshafens davon halten, wenn der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) zur Teilnahme an der faschistischen Großkundgebung zum 1. Mai aufrief? Der Ludwigshafener Widerstand gegen den Faschismus geht unter im Gebrüll der Antisemiten, auch der proletarischen Antisemiten.

Eine besonders unrühmliche Rolle bei der gescheiterten Abwehr des Faschismus spielte die SPD, als sie ihre AnhängerInnen bei der Präsidentenwahl im März 1932 dazu aufrief, für den bürgerlichen Kandidaten Hindenburg zu stimmen, also für jenen altersschwachen Militaristen, der dann die Macht freudig an Hitler weitergab. Dass die Politik der Parteiführung in Ludwigshafen bei der sozialdemokratischen Basis diszipliniert befolgt wurde, zeigt das Ergebnis:

Für Hindenburg: 38.866 Stimmen

Für Hitler: 12.152 Stimmen

Für Thälmann: 10.568 Stimmen

Der Ekel der Sozialdemokraten vor der Revolution führte dazu, sämtliche gemeinsamen Aktionen mit der KPD abzulehnen. Am 31. Januar 1932 erscheint in Mannheim, Ludwigshafen und der übrigen Pfalz ein Flugblatt der Kommunisten mit dem Titel: „Generalstreik gegen faschistische Diktaturherrschaft!“. Die Antwort von SPD und ADGB ist der gute Rat, „den Kampf nur auf dem Boden der Verfassung zu führen“. Den Lohn für diese Politik erhalten sie dann ab Ende 1933, als die ersten Sozialdemokraten in den KZs und Gefängnissen ermordet und im „Boden der Verfassung“ begraben werden. Immerhin werden sie erst drei Monate nach der KPD verboten…

Wesentlich häufiger als die Aktivität in Untergrundorganisationen der Linken ist die Emigration (zum Beispiel nach Spanien, um gegen die Franco-Anhänger zu kämpfen, aus Ludwigshafen kamen immerhin acht Mitglieder der Internationalen Brigaden) oder das stillschweigende Einrichten mit dem System.

Und die wenigen aktiven Antifaschisten in der Illegalität hatten mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen; die Kommunisten mehr mit der Aufrechterhaltung eines zentralistischen Parteiapparats beschäftigt als mit militanten Widerstandsaktionen, die sozialdemokratische Basis von ihrer Auslandsleitung mit absurden Handlungsanweisungen versorgt, alle zusammen gejagt von GESTAPO und Spitzeln.

„Bürckel ein Volksfreund?“

Josef Bürckel

geboren am 30. 3. 1895 in Lingenfeld/Pfalz

1914 Kriegsfreiwilliger

1919 Anstellungsprüfung zum Lehrer in Roxheim

1921 Parteieintritt in die NSDAP

1926 Gauleiter der Pfalz

1935 Gauleiter der Saarpfalz; Reichskommissar für die Rückgliederung des Saarlands;

1936 SA-Obergruppenführer

1937 SS-Gruppenführer

1938 Reichsstatthalter für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich

1939 Reichsstatthalter in Österreich

1940 Chef der Zivilverwaltung in Lothringen

1941 Reichsstatthalter der Westmark (Saar, Lothringen und Pfalz)

28. 9. 1944 Tod, wahrscheinlich durch Selbstmord

fragte ein illegales sozialdemokratisches Flugblatt aus der Pfalz 1935. Dass sie es überhaupt nötig hatten, diese Frage zu stellen, zeigt, dass der nationalrevolutionäre Populismus des Gauleiters bei den Pfälzern durchaus erfolgreich war.

Auch das erschwerte den Ludwigshafener Widerstand. Bürckel inszenierte sein Programm mit perfekter Demagogie. Auf einer faschistischen Großveranstaltung auf dem Neuen Meßplatz am 1. Mai, dem „Tag der nationalen Arbeit“, sagte er wörtlich: „Gebt Euch die Hand, ihr alten Gewerkschafter, auch wir geben euch die Hand, auch ihr wart ehrenhafte Kämpfer!“; und viele schluckten das, während in Dachau die ersten ehrenhaften Kämpfer totgeprügelt wurden.    

Der „rote Gauleiter“ stand dem Strasser-Flügel der NSDAP nahe, die Gau Rheinpfalz wurde sogar „allgemein als Strasser-Gau bezeichnet“. „Der deutsche Sozialismus der Tat ist meine oberste Richtschnur“, so Bürckel. Was Sozialismus bedeutet, weiß er auch, nämlich: „Wer unser großes Lied „Deutschland, Deutschland über alles“ so erfasst hat, dass nichts höher steht als dieses Deutschland, Volk und Land, Land und Volk, der ist ein Sozialist!“. Konkreter wird das bei Bürckel glücklicherweise nie …

Obwohl die Parteiführung den „Nationalbolschewisten“ noch vor 1933 eine deutliche Abfuhr erteilt hatten und nun mit einer radikal unternehmerfreundlichen Politik das Herz der Oberschicht eroberte, führte der Gauleiter mehrere sozialpolitische Maßnahmen durch, die den Unternehmern gar nicht, der Arbeiterschaft und den Erwerbslosen eher sympathisch waren.

Dabei ist zu beachten, dass die „Parteilinke der NSDAP“ eine Ideologie vertrat, die mit proletarischem Sozialismus, der die Interessen der unteren Schichten vertrat, nichts gemeinsam hatte. Sie vertraten eine mittelständische Politik, sowohl gegen das Großbürgertum („Schutz vor der industriellen Konkurrenz und der „liberalistischen Gewerbefreiheit“), als auch gegen die Arbeiterbewegung. Nach der Machtübernahme der Nazis war ihr Ziel entsprechend die „Eliminierung unerwünschter Betriebsformen“, denen sie die Schuld an der Notlage des Handwerks und des Kleinhandels gaben: Warenhäuser, Filialgeschäfte, Konsum-genossenschaften und Einheitspreisgeschäfte. So verbanden sich antikapitalistische Existenzängste und antisemitischer Konkurrenzneid zu gewaltsamen Aktionen gegen solche Geschäfte – soweit sie im Besitz von Juden waren!

Der Spuk dauerte nicht lange. Am 7. Juli 1933 verkündete der Stellvertreter des Führers Rudolf Heß auf Druck der Großindustrie: „In Hinblick auf die Allgemeine Wirtschaftslage hält die Parteileitung vorerst ein aktives Vorgehen mit dem Ziele, Warenhäuser und warenhausähnliche Betriebe zum Erliegen zu bringen, für nicht geboten. (…) Den Gliederungen der NSDAP wird daher untersagt, bis auf weiteres Aktionen gegen Warenhäuser und warenhausähnliche Betriebe zu unternehmen.“ In Ludwigshafen entwickelten die Boykottaktionen allerdings eine gewisse Eigendynamik, die sich nicht so leicht stoppen ließ, wie wir noch sehen werden …

Der „wahre Sozialismus der Tat“

Die militante Mittelstandspolitik, die die Nazi-Anhängerschaft nach der Machtübernahme forderte, führte zu einer großen Boykottwelle, die ihren Höhepunkt im April 1933 hatte. In Ludwigshafen war ihr Ziel vor allem die vier großen Warenhäuser in der Innenstadt Wronker, Rothschild, Brandt und Tietz. Deren Erfrischungsräume (sprich Restaurants) mussten bereits am 13. März schließen.

Oberbürgermeister Ecarius schildert den Vorgang in einem Brief so: „Die Schließung der Erfrischungsräume der hiesigen Warenhäuser erfolgte nicht auf amtliche Anordnung. Es bestand die Gefahr, dass die Geschäfte dazu durch die erregten Volksmassen gezwungen worden wären. Die Geschäftsinhaber haben dann auf eigenen Antrieb die Erfrischungsräume geschlossen.“ Auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass er ein Interesse hatte, den Druck von der Straße zu übertreiben, um den eigentlich „illegalen“ Vorgang zu rechtfertigen, so wird doch deutlich, dass diese und ähnliche antisemitischen Aktion große Unterstützung bei Teilen der Ludwigshafener Bevölkerung fanden.

Der reichsweite „Abwehrboykott“ begann in Ludwigshafen früher und dauerte länger als im übrigen Reich, vor allem beschränkte er sich nicht (!) auf die Warenhäuser in „jüdischem Besitz“, so erklärte Nazi-Bürgermeister Foerster noch im Juni, dass „der Kampf gegen die Warenhäuser konsequent weiter geführt“ werde.

Auch sonst nahm Gauleiter Bürckel die antikapitalistischen Parolen seiner Partei durchaus ernst. Was er konkret für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft tat, war nicht immer im Sinne der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Nazis. So gründete er zum Beispiel die sogenannte „Volkssozialistische Selbsthilfe“, die er in der ganzen Pfalz durch die Kirchenglocken einläuten ließ. Für diese sollten alle Lohn- und Gehaltsempfänger einen Teil ihres Einkommens (bis zu 20%) spenden. Wer sich weigerte, hatte „mit seiner öffentlichen Ächtung zu rechnen, sprich sein Name wurde in der Nazi-Presse veröffentlicht. Nachdem die bayrische Staatsregierung das Programm stoppte und in die reichsweite „Winterhilfe“ überführte, ließ Bürckel sein altes Programm unter neuem Namen (Volkssozialistische Gemeinschaft) und denselben Praktiken wieder einführen. Dazu verbot er in der Pfalz sogar die NS – Volkswohlfahrt.

Er schreckte noch nicht einmal davor zurück, ins Allerheiligste einzugreifen, in die Privatwirtschaft. Im März 1933 musste die IG Farben auf seinen Druck hin 1.600 Leute zusätzlich einstellen (wobei sie das bei anlaufender Kriegsvorbereitung nicht sehr gestört haben wird); im September selben Jahres versuchte er, die 40-Stunden-Woche einzuführen und die dadurch frei werdenden Arbeitsplätze mit Arbeitslosen zu besetzen.          

Gauleiter Bürckel bekam allerdings schnell die Grenzen seiner Macht gezeigt. Als er versuchte, Maßnahmen gegen das große Kapital, vertreten durch die Banken und Warenhäuser, auch gesetzlich umzusetzen, scheiterte er kläglich. Goebbels notiert in seinem Tagebuch: „Ich halte Vortrag über die sozialen Forderungen der DAF (Deutsche Arbeitsfront) und auch Bürckels vor den Kreisleitern. Der Führer ist wütend darüber und will scharfen Erlass dagegen herausbringen. Bei Tisch große Debatte über Sozialfragen. Ich gehe scharf mit den verantwortungslosen Radikalinski (sic!) ins Gericht.“

Nach Hitlers grundsätzlicher Entscheidung für eine Politik der Aufrüstung und für die Großindustrie wurde jeder Eingriffsversuch in die Wirtschaft, auch die Boykottmaßnahmen gegen Warenhäuser, von den oberen Parteigremien abgeblockt. Der Aktionsdruck der mittelständischen Parteibasis wurde abgelenkt auf rein antisemitische Aktionen; allerdings erwiesen sich die antijüdischen Boykottmaßnahmen im Vorfeld der „Nürnberger Gesetze“ von 1935 und der „Reichskristallnacht“ von 1938 oft als günstige Gelegenheit, auch wieder gegen die Warenhäuser vorzugehen.    

Spätestens hier trennen sich Propaganda und Realität der nationalen Revolution: die sozialistische Volksgemeinschaft, in der alle gleich dem einen Führer folgen, war in Wirklichkeit ein Herrschaftssystem, in dem dieselben Herren aus Wirtschaft und Militär kommandierten, die das schon seit dem Kaiserreich taten. Zu dieser „volkssozialistischen“ Gemeinschaft gehörte immer der Rassenhass, der die „Andersartigen“ ausschloss, die Juden, die Sinti und Roma, die Homosexuellen., die Behinderten Ihre Vernichtung konnten die Nationalrevolutionäre wie Bürckel realisieren, die „sozialistische Volksgemeinschaft“ nicht.

Das Pogrom

Die Tatsache, dass die antisemitischen Aktionen der Nazis bei der deutschen Bevölkerung durchaus auf Sympathie stießen, dass der Mob die Machthaber an Rassismus sogar teilweise überbot, wird gerne verdrängt. Besonders die linken Historiker weisen immer wieder auf die zentrale Steuerung der Pogrome und Übergriffe gegen Juden durch SA und SS hin. Damit wird leider nicht erklärt, was in Deutschland, auch in der Pfalz „im traurigen Monat November“ geschah. Die Legende, die Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft sei gegen Hitler und gegen die Judenverfolgung gewesen, in die „innere Emigration“ geflüchtet oder nur durch die blutige Repression niedergehalten worden, ist leider eine solche.

So schämen sich zahlreiche Ludwigshafener Geschäftsinhaber nicht, während dem sogenannten „Abwehrboykott“ ihre Schaufenster mit Schildern wie „In deutschem Besitz!“ oder „Arisches Geschäft!“ zu dekorieren.