Hartmut Rübner

Die proletarischen Gesundheits- und Sanitätsdienste

Die Anfänge der Unfallschutz- und Gesundheitsbewegung der Arbeiter und Arbeiterinnen reichen bis ins Jahr 1888 zurück. Bis dahin hatten die Gewerkschaftsvereine vergebens nach einer Lösung gesucht, um verunglückten Arbeitern, oder auch deren Familienangehörigen, eine rasche medizinische Erstversorgung zukommen zu lassen. Im März 1888 erklärte sich der sozialpolitisch engagierte Arzt Dr. Alfred Bernstein[1] bereit, für den ‘Verband deutscher Zimmerleute’ eine mehrwöchige Vortragreihe zum Thema ‘Erste Hilfe’ abzuhalten.[2] Im Winter 1888/89 ersetzte Alfred Bernstein die Vorträge durch zwölftägige Lehrkurse. Durch den durchweg positiven Widerhall seiner Veranstaltungen ermutigt, veröffentlichte Bernstein im Oktober 1889 in der Berliner Presse einen Aufruf, in dem er namentlich die Arbeiterkreise zum Besuch der „Vorträge und praktischen Übungen“ animierte.[3] Aufgrund der steigenden Zahl von Arbeitsunfällen in der Phase der Hochindustrialisierung und nicht zuletzt aufgrund der katastrophalen hygienischen Wohn- und Lebensbedingungen in den Arbeitervierteln der Großstädte begannen sich im steigenden Maße sozialdemokratische Ärzte und Kommunalpolitiker den Missständen in der Gesundheitsversorgung anzunehmen. Nachhaltig verstärkt wurde dieser Einsatz durch die im Sommer 1892 in Hamburg grassierende Cholera-Epidemie, an der etwa 8600 Menschen sterben. Durch die skandalösen Zustände in Hamburg alarmiert, rief der gesundheitspolitische Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, Dr. Ignaz Zadek, zu umfassenden Präventivmaßnahmen auf und regte die Gründung einer „Sanitätskolonne von Freiwilligen“ an. Unter den Ärzten, die sich zu einer Mitarbeit der zu diesem Zweck gebildeten ‘Arbeiter Sanitäts-Commission’ bereiterklärten, befand sich u. a. der spätere sozialdemokratische Stadtverordnete Dr. Raphael Friedeberg (1863-1940).[4] Der damalige Hausarzt August Bebels schlug im Frühjahr 1896 vor, die Lehrkurse als geschlossene ‘Arbeiter Sanitäts-Kolonne’ auf den Großveranstaltungen der Arbeiterbewegung aufzutreten zu lassen. Erstmalig geschah dies am 7. August 1897 anlässlich des ‘Arbeiter-Sänger-Festes’ in Pichelsdorf bei Spandau. Ihr dortiger Einsatz vor 40.000 Teilnehmern machte die ‘Arbeiter-Samariter’ in Arbeiterkreisen so populär, dass der Verband in den Berliner Norden expandieren konnte. Als Leiter der ‘Nordabteilung’ (Wedding, Prenzlauer Berg) fungierte Dr. Raphael Friedeberg. Ab 1899 treten die ‘Arbeiter-Samariter’ mit mobilen Zeltstationen bei Sport- und Wahlveranstaltungen auf. Die Berliner Aktiven bezeichneten sich nun (1901) einheitlich als ‘Arbeiter-Samariter-Kolonne Berlin u. Umgebung’. Im gleichen Jahr begann die reichsweite Ausdehnung des Verbands (Dresden [1901], Köln [1904], Meißen [1906], Hamburg [1907], Elberfeld [1907], Nürnberg u. Kassel [1909]). Am 11./12. April 1909 erfolgte schließlich der reichsweite Zusammenschluss der lokalen Sanitätsgruppen auf dem Gründungskongress des ‘Arbeiter-Samariter-Bundes’ (ASB). Die Tätigkeiten des ASB sollten sich auf folgende Gebiete konzentrieren:


1. Sanitätsdienst

2. Unfallverhütung in Betrieben, staatlichen und kommunalen Einrichtungen

3. Haus und Krankenpflege

4. Arbeitsschule für Haus-/Krankenpflege und sanitären Dienst

5. Gesundheitspflege zur Bekämpfung der Geschlechts- und Volkskrankheiten

6. Jugendpflege

7. Hygiene (Wohnung - Arbeit - Kleidung - Nahrungsmittel)

8. Allgemeine Wohlfahrtspflege: Alterspflege und Fürsorge, Waisenpflege und Unterstützung von Hilfsbedürftigen.[5]


Der Erste Weltkrieg unterbrach den Aufschwung der proletarischen Gesundheitsbewegung nur für einige Jahre. Während des Kapp-Putsches waren es die Spandauer, Köpenicker und Wilhelmsruher Arbeitersamariter, die vor dem Rathaus Schöneberg als neutrale Sanitätsgruppe eingesetzt wurden. Von staatlicher Seite wurde der ASB in dieser Zeit ebenso wenig wie von den Gewerkschaften anerkannt. Die Führung des ADGB kooperierte ihrerseits mit dem DRK und insistierte auf den Übertritt des ASB in den politisch neutralen Verband. Die Auseinandersetzungen mit den kommunistisch orientierten Mitgliedern des ASB führte 1921/22 zur Spaltung des ASB. Mit dem ‘Proletarischen Gesundheitsdienst’ (PGD) entstand unter der maßgeblichen Beteiligung des Weddinger Arztes Dr. Georg Benjamin nun eine Gesundheitsorganisation die sich dem ideologischen Kurs der KPD verpflichtet fühlte. Der ASB, der die „neutrale“ Basis des Samariterwesens mit zahlreichen Ausschlüssen zu sichern wusste, umfasste im April 1924 nicht weniger als 650 Kolonnen mit insgesamt 36.000 Mitgliedern. Der ASB verlor den opponierenden PGD in der Folgezeit nicht ganz aus dem Blickwinkel, denn auf der Bundes-Konferenz des ASB am 26. und 27. April 1924, wurde über eine Verschmelzung mit dem kommunistischen Verband debattiert.[6] Die Politik des Vorstands zielte dabei mehr auf die staatliche Anerkennung als auf eine politische Involvierung, so dass alle Resolutionen in Richtung einer politischen Orientierung abgelehnt wurden. Auch eine Zusammenarbeit mit der kommunistischen ‘Internationalen Arbeiter-Hilfe’ (IAH) wies man generell zurück.[7] Im Zuge ihrer Einheitsfronttaktik betrieb die KPD seit 1925 die Auflösung des PGD und den Übertritt ihrer Mitglieder in den ASB.[8] Im Verlauf des Jahres 1926 gelang die beabsichtigte Liquidation nahezu flächendeckend. Einzig die Abteilung in Jena, die unter der Leitung von Adolf Große stand, widersetzte sich erfolgreich der Auflösung. Nachdem sich nun offenbar verstärkt linksradikale Splitterorganisationen für den PGD zu interessieren begannen, gelang es die Reste des Verbandes im Verlauf des Jahres 1927/28 zu konsolidieren. Im Jahr 1929 war der Berliner PGD wieder in 18 Berliner Bezirken präsent. Das Verbandsorgan ‘PGD. Organ des proletarischen Gesundheitsdienstes’ gab 13 Adressen für Ausbildungskurse in Berlin und weitere 11 im Reichsgebiet bekannt. Zu den PGD-Veranstaltungen, die vielfach unter dem Motto „Proletarier, die Revolution braucht Samariter“ stattfanden, konnten die einzelnen Ortsverbände ihre Propagandatruppe ‘Die Schmiede’ anfordern.[9] Aufgrund des verstärkten Engagements von Mitgliedern der FAUD (AS) bezeichnete die Polizei den PGD als „anarchosyndikalistisch“ eingestellt.[10] Obgleich einige wenige Querverbindungen beider Organisationen nachweisbar sind, kann der ‘Proletarische Gesundheitsdienst’ jedoch keineswegs als eine Unterorganisation der FAUD (AS) klassifiziert werden. Sehr wahrscheinlich waren im PGD – ähnlich wie in der ‘Gemeinschaft proletarischer Freidenker’ – unterschiedliche Gruppierungen des linksradikalen Spektrums vertreten. Konkrete Hinweise auf eine anarchosyndikalistische Beteiligung liegen für Ottweiler im Saargebiet vor. Dort erledigte der FAUD-Geschäftsführer Wilhelm Kramer die regionalen Geschäfte des PGD. In Düsseldorf fanden die Übungsabende im Büro der FAUD statt.[11] Auf eine heterogene Zusammensetzung seiner Mitglieder lassen auch die politischen Aktivitäten des PGD schließen. So beteiligte sich der in Opposition zur KPD stehende Gesundheitsdienst ab Januar 1931 an dem bedeutendsten Berliner Linkskartell, der ‘Kampfgemeinschaft gegen Reaktion und Faschismus’. Zeitweilig gehörten dieser ‘Kampfgemeinschaft’ die folgenden Organisationen an: FAUD, ‘Bund revolutionärer Industrieverbände Deutschlands’, USPD, SAJD, GpF, ‘Kommunistische Arbeiter-Union’, ‘Leninbund’, KPO, der ‘Syndikalistische Frauenbund’ und der ‘Freie Arbeiter-Sängerbund Deutschlands’.[12] Wenn auch zu vermuten ist, dass Einzelmitglieder aus diesen genannten Gruppierungen im PGD vertreten gewesen sein dürften, so liegen jedoch konkrete Hinweise über die Zusammensetzung und die Stärke des linken Sanitätsdienstes bislang nicht vor. Über die weitere Entwicklung des PGD ist nichts Genaues bekannt. Vermutlich wurde die linksradikale Gesundheitsorganisation von den Nationalsozialisten nicht wie der ASB gleichgeschaltet, sondern aufgelöst und verboten.

Die Arbeitersanitätsbewegung kann ebenso wie z. B. die Freidenkerverbände, die Mieterverbände und die Sexualreformbewegung, als weiteres Beispiel einer proletarischen Selbsthilfeinitiative gelten. In mancherlei Hinsicht, jedoch ohne deren postulierten Klassenvertretungsanspruch und deren sozialistische Programmatik, ähneln diese Aktivitäten den gegenwärtigen Bürgerinitiativen. Im Gegensatz zu den damaligen Selbsthilfeorganisationen vertreten die heutigen Bürgerinitiativen tendenziell stärkere Partikularinteressen. So fungieren Anwohnerinitiativen beispielsweise immer öfter zu stadteillobbyistischen Abschiebeinstanzen für unerwünschte Personen. Als traditioneller Gesundheitsverband des sozialdemokratischen Umfelds bildet der heutige Arbeiter-Samariter-Bund (ebenso wie auch die Arbeiter-Wohlfahrt) den institutionellen Unterbau der staatlichen Gesundheitspolitik.

Fußnoten

[1] Der praktische Arzt Dr. Alfred Bernstein (1858-1922) gehörte vor 1914 dem sozialistischen Flügel der SPD an. Mit seinen Aufklärungsschriften „Werde sehend, liebe Schwester!“ (‘Fritz Kater-Verlag’, Berlin 1906) und „Wie fördern wir den kulturellen Rückgang der Geburten? Ein Mahnruf an das arbeitende Volk“ (‘Fritz Kater-Verl.’, Berlin 1913), berief er sich explizit auf P. Kropotkin. Er gilt als radikalster Propagandist des sozialrevolutionären Gebärstreiks und somit als Auslöser der sog. ‘Gebärstreikdebatte’ im Jahre 1913. Während des 1. Weltkriegs referierte Bernstein für die FVdG. Vgl. den Bericht über seinen Vortrag vom 18. Oktober 1915, in: ‘Rundschreiben an die Vorstände und Mitglieder aller der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften angeschlossenen Vereine’ (Hrsg.: GK der FVdG), 1915/Nr. 9. Vgl. auch A. Bernstein, „Die Strafe und der Strafvollzug im Lichte des Sozialismus“, in: ‘Der Syndikalist’, 1. Jg. (1918), Nr. 3.

[2] Eine kurze Darstellung der Arbeiter-Samariter-Bewegung findet sich bei: K. Beck, „Splitter? Hol’ den Samariter. Der Arbeiter Samariter Bund“, in: Das halbe Leben. Geschichte und Gegenwart des arbeitenden Berlins (Hrsg. vom DGB-Landesbezirk Berlin und dem Bildungswerk des Berufsverbandes Bildender Künstler Berlins im Rahmen der 750-Jahr Feier Berlins), Berlin 1987, S. 22-29.

[3] „Aufruf an alle Arbeiter Berlins!“, in: ‘Berliner Volksblatt’ (18. Okt. 1889).

[4] Der spätere Anarcho-Sozialist R. Friedeberg initiierte die sog. Massenstreikdebatte in der SPD. Mit seinen Thesen beeinflusste er 1904/05 maßgeblich das Programm der FVdG.

[5] Siehe: K. Beck, „Splitter? Hol’ den Samariter. Der Arbeiter Samariter Bund“, a. a. O., S. 27.

[6] Vgl. den Lagebericht der Polizeidirektion Nürnberg Nr. 1309 vom 8. August 1924, in: Staatsarchiv Bremen (im folg. zit. StAB), 4,65/1042.

[7] Vgl. ebd.

[8] Vgl. StAB, 4,65/1042 (Bl. 41).

[9] Die Leitung der Propagandatruppe übernahm der Herausgeber des PGD-Organs Ernst Jeske. Nach dem Verbot der Freidenkerbewegung im Jahre 1933 fungierte Jeske als Geschäftsführer der illegalen GpF-Nordostdeutschland und gehörte dem fünfköpfigen Leitungsgremium der GpF an. Im Sommer 1933 wurde Jeske von der Gestapo verhaftet.

[10] Vgl. StAB 4,65/1042 (Bl. 47).

[11] Vgl. ‘PGD. Organ des proletarischen Gesundheitsdienstes’, 8. Jg. (1929), Nr. 6/8 u. Nr.11/12.

[12] Vgl. dazu A. Graf, Anarchismus in der Weimarer Republik. Tendenzen, Organisationen, Personen, Bd. 1, Diss. Phil. Berlin 1990, S. 118f