Sprengstoffdiebstahl 1921

Das Gasthaus "Deutscher Kaiser" in der Breiten Straße in Westeregeln

Das Gasthaus "Deutscher Kaiser" in der Breiten Straße in Westeregeln (Postkarte von 1912)

Am 29. März 1921, abends ab 8 Uhr, tagten Funktionäre und andere Parteiangehörige (ca. 30 Leute aus Westeregeln und den Dörfern der Umgebung, drei aus Magdeburg, einer aus Burg) der beiden Parteien (VKPD und KAPD) zuerst im Gasthof „Deutscher Kaiser“ [1] (nach anderen Aussagen Gasthof Drewes) und anschliessend in der Wohnung des Landwirts und Kaufmannes Friedrich Annecke in Westeregeln, um über die Unterstützung des mitteldeutschen Aufstandes (Märzkämpfe Leuna und Mansfeld) zu beraten. Auf dem Treffen erschien ein unbekannter Mann, der einen mit Stempel-Geheimcodes beglaubigten Ausweis vorzeigte, der ihn – ohne Namensnennung – als Mitglied der Kampforganisation legitimierte. Er nannte sich „Max Hölz“ [2] und gab vor, aus dem Mansfeldischen im Auftrag des Exekutivkomittees in Magdeburg zu kommen, wo VKPD, KAPD, Unionisten und Syndikalisten sich verständigt hätten, eine gemeinsame Aktion in die Wege zu leiten. Die beteiligten Parteien sollten die politische Leitung übernehmen, er selbst sei für die militärische zuständig. Mit einer Gegenstimme wurde eine allgemeine Streikbereitschaft der Versammelten festgestellt. Daraufhin wurde beschlossen, das Vordringen der Sipo in den Mansfelder Raum zu behindern und den Generalstreik auszurufen. „Hölz“ hatte auch Flugblätter mitgebracht, in denen zum Generalstreik aufgerufen und die Räterepublik proklamiert wurde. Zur Umsetzung des Vorhabens sollten wichtige Verkehrsknotenpunkte gesprengt, öffentliche Gebäude besetzt, Telefonleitungen unterbrochen und Geld zur Unterstützung eingetrieben werden. Der dazu nötige Sprengstoff, so wurde beschlossen, sollte am nächsten Tag aus der Schachtanlage des Alkaliwerkes Westeregeln besorgt werden.

Am nächsten Morgen fand eine Belegschafts-Versammlung auf dem Kanonenplatz statt. Dort verlas zunächst Annecke eine Solidaritäts-Resolution mit den Arbeitern Mitteldeutschlands. Der anschließenden Rede des VKPD-Funktionärs Franz Breuer, in der die Beschlüsse vom Vortag verkündet worden waren, schloß sich der Betriebsratsvorsitzende Josef Lange an und legte gleichzeitig sein Amt nieder. Anschließend wurde ein Aktionsausschuss gewählt. Für die Besorgung des Sprengstoffes meldeten sich zahlreiche Freiwillige. Zehn von ihnen begaben sich daraufhin unter Leitung Breuers auf die dritte Sohle des Schachtes III und beschlagnahmten – nachdem der dortige Aufseher unter Gewaltandrohung zur Herausgabe der Schlüssel gezwungen worden war – „Sprengstoff in beträchtlicher Menge“, der laut Sachverständigen für die Sprengung ganzer Ortschaften ausgereicht hätte; ausserdem hätte die Art des Sprengstoffes (Astralit) darauf hingedeutet, daß auch Unterwasser-Sprengungen (z.B. Brücken über Flüsse) vorgenommen werden sollten.

Vor dem Schachtgebäude wartete bereits Annecke mit seinem Pferdefuhrwerk, um den Sprengstoff – insgesamt ca. 5 Zentner – abzutransportieren. Er brachte ihn zu seinem Gehöft, wo er zunächst im Kuhstall gelagert und anschliessend auf die Genossen der verschiedenen Ortschaften aufgeteilt wurde. Diese zogen dann mit dem Sprengstoff ab. Später wurde in den Orten Bleckendorf, Egeln, Etgersleben, Groß Ottersleben, Leopoldshall, Staßfurt Sprengstoff durch die Polizei gefunden. In Kroppenstedt wurden zudem zahlreiche Telegrafenleitungen zerschnitten. Noch am Abend des 30.3. begaben sich dann Einige – darunter der „Hölz“, Annecke, Breuer und der Magdeburger KAPDler Karl Reimann [3] – nach Etgersleben, wo sie bei dortigen Kommunisten übernachteten. Vermutlich hatten sie die Absicht, die dortige Bode-Brücke zu sprengen. [4]

Am nächsten Morgen marschierte dann aber bereits die Schupo in Westeregeln ein und nahm zahlreiche Verhaftungen vor. Die in Etgersleben befindlichen Auswärtigen konnten zunächst fliehen. Bereits wenige Wochen nach dem Geschehen fand das erste Verfahren gegen ca. 30 Beteiligte statt, die grösstenteils – bis auf zwei Freisprüche mangels Beweisen – zu Gefängnisstrafen zwischen 5 und 15 Monaten verurteilt wurden. Die vermeintlichen oder tatsächlichen „Rädelsführer“ wurden mit Zuchthaus bestraft, wobei Franz Breuer mit 6 Jahren die mit Abstand höchste Strafe erhielt. Gegen Annecke konnte krankheitshalber nicht verhandelt werden. Er hatte sich angesichts des wenig heroischen Verhaltens der meisten seiner Genossen, die Annecke schwer belastet haben sollen, sich den Lichtschacht des Gerichtes hinuntergestürzt. Er überlebte diesen Selbstmordversuch, verlor dabei aber ein Bein. [5] Das Verhalten der Genossen dürfte zumindestens mit ursächlich für seinen Lossagung von der Kommunistischen Partei und seinen Übergang zum Anarchismus gewesen sein. In mehreren weiteren Verfahren wurden zahlreiche weitere Beteiligte aus den umliegenden Dörfern verurteilt. Die meisten der Verurteilten stellten Gnadengesuche, ein Großteil wurde bereits vor Ablauf der regulären Haftzeit entlassen. Die KP-Gruppe Westeregeln soll sich nach den Ereignissen im März 1921 vollständig aufgelöst haben.

Schacht III der Alkali-Werke Westeregeln (1923)

Schacht III der Alkali-Werke Westeregeln (1923)

Über die Identität des angeblichen Max Hölz gab es zahlreiche Mutmaßungen, jedoch keine genauen Informationen. Fest steht nur, daß aufgrund der Beschreibung – etwa 28 Jahre, hellblondes Haar, Berliner Dialekt – der bekannte „mitteldeutsche Bandenführer“ und Kommunist Max Hölz nicht in Frage kommt. In den Ermittlungsakten der Polizei wurden zahlreiche Mutmaßungen angestellt, die sich jedoch alle nicht bestätigten. Einer der im Verfahren Angeklagten, der Kommunist Franz Breuer, sagte aus, daß der Unbekannte identisch mit einem Mann sei, der bei der Vernehmung der Angeklagten in Kroppenstedt durch die Kripo anwesend gewesen war. Ein Magistratsschreiber aus Kroppenstedt bestätigte damals, daß jener Mann Sipo-Angehöriger gewesen sei. Daher ist davon auszugehen, daß jener „Hölz“ ein Lockspitzel der Polizei gewesen ist. Bereits während des Geschehens in Westeregeln ist dieser Verdacht geäussert worden, woraufhin 2 Fahrradkuriere nach Magdeburg gesandt worden waren, um von der Parteileitung eine Bestätigung über die Befugnisse des Hölz einzuholen. Diese fuhren zunächst nach Groß Ottersleben zum dortigen Ex-USPD-Vorsitzenden Wilhelm Ebeling, der erklärte, dass alles seine Richtigkeit habe. Er sei gerade aus Magdeburg gekommen, wo sie schon auf Nachrichten aus Westeregeln warten würden. Daraufhin beschlossen die beiden, auf weitere Erkundungen zu verzichten und nach Westeregeln zurückzukehren. Eine definitive Bestätigung der Vollmachten des Unbekannten erfolgte demnach nicht. Jacob Dreisbach, der zu jener Zeit Vorsitzender der Bezirksleitung der VKPD in Magdeburg war, bezeugte beim Verfahren, daß seitens der KP keinerlei Emissäre nach Westeregeln ausgesandt worden waren.

Fußnoten

[1] das Lokal „Deutscher Kaiser“, wo sich die Funktionäre trafen, könnte die heutige „Linde“ sein (Info Breithaupt)

[2] Mit dem gleichnamigen, damals weithin bekannten mitteldeutschen „Bandenführer“ hatte er nichts zu tun, was auch die Polizei anhand der Personen-Beschreibungen überprüft hatte. In den Polizeiakten befanden sich auch Fotos des „echten“ Hölz, die extra aus Berlin angefordert worden waren.

[3] Reimann war auch Vorstandsmitglied der AAU in Magdeburg und mit Annecke durch langjährige Parteimitgliedschaft (vermutlich in der SPD) bekannt.

[4] Info Fam. Breithaupt. In den Polizeiakten konnten dafür allerdings keine Hinweise gefunden werden.

[5] Zum (wahrscheinlich späteren) Verfahren gegen Annecke sind noch keine Akten aufgefunden worden.