Wilhelm Hasselmann

Zum Gesetzsentwurf, betreffend die authentische Erklärung und die Gültigkeitsdauer des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878

45.Sitzung des Reichstages am 4. Mai 1880

Vizepräsident Freiherr zu Frankenstein: Wir treten jetzt in die Beratung der einzelnen Artikel.

Ich eröffne die Debatte über §1 des Gesetzes und erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Hasselmann. (Unruhe.)

Abgeordneter Hasselmann: Ich werde durchaus nicht Ihre Geduld lange in Anspruch nehmen; ich werde in Kürze meine Stellung zu §1 der Vorlage und der dort in Antrag gebrachten Deklaration, dass Abgeordnete während der Session aus Berlin nicht ausgewiesen werden sollen, darlegen.

Ich bin revolutionärer Sozialist; als solcher halte ich eine derartige Deklaration für vollständig überflüssig und danke dafür, irgend ein solches Geschenk von Ihnen zu akzeptieren. Es ist tatsächlich nur der Versuch einer Verbesserung eines unverbesserlichen Gesetzes, den Sie machen.

Sie wollen sich schützen! Es ist ja richtig, der Reichstag steht nach der Auslegung, welche seitens der Berliner Staatsanwälte und Polizei beliebt worden ist, unter polizeilicher Kontrolle, und diese letztere soll durch die Deklaration aufgehoben werden. Uns Sozialisten ist es aber vollständig gleichgültig, in welcher Weise von oben herunter mit dem Reichstag und seinen Privilegien verfahren wird, ob Herr von Madai[1] glaubt, jedes beliebige Reichstagsmitglied aus Berlin ausweisen zu können, ob er diesen seinen Willen durchsetzt oder nicht. In jeder Beziehung ist es uns gleichgültig, wie die Entscheidung hier fallen wird.

Etwas viel Wichtigeres steht in Frage.

Das allgemeine Wahlrecht, auf welches der Reichstag begründet ist, und mit Hilfe dessen derselbe allein den Schein einer Volksvertretung gewinnen kann, dieses allgemeine Wahlrecht ist durch das Sozialistengesetz annulliert, es ist durch dasselbe so gänzlich in sein Gegenteil verkehrt worden, dass es gleichgültig ist, ob Sie sozialistischen Abgeordneten während der Reichstagssession ihre Anwesenheit in Berlin verwehren wollen oder nicht.

Das allgemeine Wahlrecht setzt als selbstverständlich voraus, dass über die Fragen, welche bei Wahlen zur Sprache kommen, eine freie Diskussion in der Presse und in Versammlungen möglich ist. Ist diese nun aber abgeschnitten, wie es seiner Zeit unterm dem Napoleonischen Regime in Frankreich geschah, und wie es jetzt unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes im deutschen Reich der Fall ist, so hört das allgemeine Wahlrecht tatsächlich zu existieren auf, es wird ein leerer Schein.

Allerdings können in jenen Gegenden, wo heute bereits die große Menge des Volkes aus Sozialdemokraten besteht, die Arbeiter noch fortwährend sozialdemokratische Abgeordnete wählen. Aber damit ist noch lange nicht der Beweis geführt, dass eine legale Anwendung des Wahlrechts überall noch möglich ist.

Was wollen denn die Millionen hungernder Arbeiter in Deutschland? Wollten Sie etwa nur durch ein Dutzend Personen im Reichstage vertreten sein, damit diese ab und zu ein Wort in die Waagschale werfen, um das allgemeine Elend und die Lage des Volkes zu schildern?

Ich denke, die Sache liegt ernster. Das hungernde Volk will Brot haben! Die Arbeiter Deutschlands wollen Freiheit haben!

Sie hoffen eine Zeit lang, mittels des allgemeinen Wahlrechts eine Majorität im Reichstage sich erringen zu können. Jetzt unterm Sozialistengesetz ist dieses nicht mehr möglich. Redner können in jenen Bezirken nicht zu den Wählern sprechen, Gegnern nicht dort entgegentreten, um Klarheit zu schaffen, wo bis heute noch niemals ein Sozialdemokrat gesehen wurde, und wo in Folge dessen konservative und liberale Herren die unbestrittene Domäne bei der Wahl haben. Gegenwärtig ist, mit einem Wort, die Möglichkeit einer legalen Entwicklung auf Grund des allgemeinen Wahlrechts dem deutschen Volke abgeschnitten.

Es wurde in der Debatte von einem Redner der Rechten die Erklärung abgegeben, das Sozialistengesetz habe sehr ernüchternd gewirkt. Gewiss, in einer Beziehung hat es ernüchternd gewirkt, aber freilich in einer wesentlich anderen Beziehung, als jener Redner es meinte. Das Sozialistengesetz hat ernüchternd gewirkt, insofern eine große Anzahl deutscher Arbeiter noch vor kurzem glaubte, es sei möglich, mit der Regierung und der herrschenden Klasse sich auf friedlichen Fuß zu stellen; jene haben jetzt gesehen, dass ihnen diese Möglichkeit gänzlich abgeschnitten ist. Diese Ernüchterung hat klare Köpfe geschaffen, und es sind die Männer mit festen Herzen jetzt bereit, alles in die Waagschale zu werfen.

Fragen wir, wie die ersten Männer, welche in Deutschland für das allgemeine Wahlrecht in die Schranken traten, die Möglichkeit hinstellten, dass das Volk mit Hilfe dieses Wahlrechts die Gesetzgebung sich nutzbar mache? Genügende Antwort darauf gibt das Wort, welches Lassalle seiner Zeit in Frankfurt den Arbeitern zurief, als sie ihn befragten, ob er meine, dass auf loyalem, friedlichem Weg nur mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts Deutschland sich freiheitlich gestalten werde. Da gab Lassalle den Arbeitern zur Antwort: „Nach meiner Überzeugung ist das allgemeine Wahlrecht die Republik, und die Republik ist das allgemeine Wahlrecht! Wenn in einem Staate allgemeines Wahlrecht existiert, und es ist nicht die Freiheit dort, wie sie eine Republik bietet, so wird das Wahlrecht dadurch zur Lüge gemacht.“

Das Sozialistengesetz nimmt die Freiheit fort, und die beantragte Deklaration zum Paragrafen verhindert durchaus nicht die Tatsache, dass das allgemeine Wahlrecht jetzt eine Unwahrheit geworden ist.

Andererseits aber sagte Lassalle zu den Arbeitern: „Wenn Ihr die Republik habt, dann bedingt sie das allgemeine Wahlrecht; denn ohne ein solches ist dieselbe nicht zu denken.“

Sie sehen, wie jetzt durch die reaktionäre Entwicklung der politischen Verhältnisse die Arbeiter auf republikanische Bahnen hinausschreiten, wie den Arbeitern die Lehre, dass es für sie nicht anders möglich sei, ihre Lage zu verbessern, und sich Brot und Freiheit zu schaffen, als indem sie für die volle und ganze Freiheit ihre Person und ihr alles in die Schanze schlagen, gegeben wird.

Dieser Paragraf soll die Reichstagsabgeordneten schützen und ihnen die Möglichkeit gewähren, im Reichstage mitzuwirken. Nun hat aber die Polizei durch das Sozialistengesetz Mittel und Wege genug zur Hand, um einen sozialistischen Reichstagsabgeordneten vollständig zu verhindern, seine Tätigkeit im Reichstag auszuüben. Ob die Polizei einen Abgeordneten aus Berlin verweist, oder ob sie ihn, wie ein tatsächlicher Fall lehrt, durch Schikanen mittels dieses Gesetzes in den Tod treibt, ist gleich. Ich erkläre hier von der Tribüne aus, dass der Reichstagsabgeordnete Reinders nur deshalb gestorben ist, weil er durch fortwährende Vexation[2] seitens der Breslauer Polizei in eine so traurige Lage versetzt worden war, dass er nicht das Notwendigste zu wirksamer Pflege seines schwindsüchtigen Körpers sich beschaffen konnte. Sein Arzt, Herr Dr. Heppner, hat mir persönlich versichert, dass, wäre nicht fortdauerndes Elend das Los Reinders’ gewesen, er wohl noch Jahre lang am Leben hätte erhalten werden können.

Sie wollen den Reichstag angeblich sicher stellen gegen Polizeischikanen durch die unbedeutende Deklaration des §28 des Sozialistengesetzes. Dadurch sichern Sie noch lange nicht die freie Volksstimme und machen es möglich, dass dieselbe im Reichstage zur Geltung kommt, sondern es wird nur ein Schönheitspflästerchen dem unverbesserlichen Paragrafen aufgeklebt. Gerade bei diesem Paragraf, der vom kleinen Belagerungszustand handelt, ist es am wenigsten angemessen, ihm ein kleines Freiheitsmäntelchen umzuhängen, denn er besagt, dass die Polizei, welche die „Verteidigerin des Vaterlandes“ sein will, Männer hinaustreiben kann aus ihrem Vaterlande; er besagt, dass die „Verteidiger des Eigentums“ das Eigentum der Ausgewiesenen zerrütten und zerstören; es besagt, dass die „Verteidiger der Ehe“ die Ehe zerreißen, indem sie den Mann von seiner Familie hinwegtreiben; er besagt, dass Ehe, Familie, Eigentum und Vaterland nicht für die geächteten Sozialdemokraten da sein sollen! Damit wird der „sittliche Gehalt“ des Sozialistengesetzes vollständig ins rechte Licht gestellt.

Was hat ein solcher Zustand nun für Folgen?

Glauben Sie, dass die deutschen Arbeiter etwa zufrieden sein werden, wenn sie sich zwar sagen können: „es ist möglich, dass einige Abgeordnete, welche wir gewählt haben, in Berlin tagen“, wenn sie aber zugleich sich sagen müssen: „es ist durch das Sozialistengesetz unmöglich, mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts die Gesetzgebung zu Gunsten der Arbeiter zu lenken?“ – Nein, sie werden alsdann, von allen ihren Illusionen ernüchtert, sich sagen: nur in unserer Kraft und in unserem Mute allein liegt noch Heil.

So, wie wir sehen, dass in Russland die Anarchisten jetzt wirken, so wie wir sehen, dass die französischen Arbeiter sich aufopferten – so, meine Herren, werden es auch die deutschen Arbeiter tun! (Oho! rechts. Große Unruhe. Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Freiherr zu Frankenstein: Ich muss den Herrn Redner wegen der letzten Worte unterbrechen. Er hat gesagt, dass die deutschen Arbeiter nach seiner Ansicht dasselbe tun werden, was die russischen und die französischen Arbeiter zur Zeit der Kommune getan haben. Ich halte diese Äußerung für unzulässig und rufe den Redner zur Ordnung. (Beifall.)

Abgeordneter Hasselmann: Ich habe meine Überzeugung ausgesprochen. (Lachen.) Im übrigen werden Sie sehen, dass das Volk in seiner eigenen Sache Richter sein wird.

Ich male Ihnen keineswegs diese Volksstimmung als ein Schreckgespenst an die Wand, sondern ich spreche so, indem ich mein persönliches Gefühl mit den Volksideen, mit diesen energischen, revolutionären Volksideen identifiziere. Ich bedauere es, dass die russischen Anarchisten seiner Zeit hier auf der Tribüne von Seiten einiger Sozialisten als eine uns fremd gegenüberstehende Partei hingestellt sind. (Hört! hört!) Ich für meine Person akzeptiere diese Gemeinschaft. Für meine anderen Herren Kollegen kann ich allerdings diesbezüglich hier nicht sprechen.

Es ist aber tief in das Bewusstsein des Volkes die Idee eingedrungen, dass die Zeit des parlamentarischen Schwätzens vorüber ist und die Zeit der Taten beginnt. (Hört! hört! Lachen.)

Vizepräsident Freiherr zu Franckenstein: Es ist ein Antrag auf Schluss der Debatte gestellt von dem Herrn Abgeordneten von Behr-Schmoldow. Diejenigen Herren, welche den Antrag auf Schluss der Debatte unterstützen wollen, bitte ich, sich zu erheben. (Geschieht.) Die Unterstützung genügt (…) die Debatte ist geschlossen.

Fußnoten

[1] Guido von Madai (1810-1892): preußischer Beamter, 1872-1885 Polizeipräsident von Berlin.

[2] Vexation: Quälerei