An die Leser des "Vorwärts"!

Vorwärts Nr. 125, 21.10.1878 (Nach: Auer, Ignaz: Nach zehn Jahren, Nürnberg 1913, S. 85f)

Die vorliegende Nummer erscheint noch unter der Gültigkeit des ordentlichen Gesetzes, des gemeinen Rechts. Die nächste hingegen, welche Freitag den 25. Oktober herausgegeben wird, fällt schon unter die Herrschaft des Ausnahmegesetzes.

Da nicht unsere Anschauung und unser Geschmack, zu schreiben und zu redigieren, allein maßgebend ist, sondern der Wunsch unserer zahlreichen und treuen Leser, dass ihnen der "Vorwärts" erhalten bleibe, so werden wir uns auf den Boden des Ausnahmegesetzes stellen und die "sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen, die in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zutage treten" (§6 des Ausnahmegesetzes), resp. derartig durch die Polizei gedeutet werden können, sorgsamst vermeiden. Es ist das für uns eine schwere, saure Leistung; dagegen aber verlangen wir von unseren Lesern ein freundliches Entgegenkommen und ein ferneres Wohlwollen. Von den Behörden aber fordern wir, dass sie ohne Voreingenommenheit dem Wortlaut und dem Geist des Gesetzes (§6) gemäß jede einzelne von nun an erscheinende Nummer des "Vorwärts" prüfen und auf Grund dieser Prüfung erkennen, und nicht, wie der Minister des Innern von Preußen, Graf Eulenberg, andeutete, nach der allgemeinen Tendenz, die der "Vorwärts" besessen hat und noch besitzt.

Das Ausnahmegesetz wird so schon Verderben genug über unser Vaterland bringen, so das die Behörden nicht beflissen zu sein brauchen, dieses Verderben noch durch eine illoyale und falsche Auslegung des Gesetzes zu vermehren.

Der Ursprung des Ausnahmegesetzes ist nicht in den Attentaten zu suchen – dieselben waren nur die äußere, und zwar bei den Haaren herangezogene Veranlassung; der wirkliche Ursprung ist der ungeheure Notstand, in welchem sich das "Deutsche Reich" in politischer und besonders in wirtschaftlicher Beziehung befindet.

Man musste dem Volke etwas bieten – und weil man keine positiven Verbesserungen einführen will oder kann, deshalb sollte auf dem negativen Wege des Ausnahmegesetzes die Not wenigstens vom öffentliche Markte des Lebens zurückgedrängt werden. Man macht diejenigen mundtot, welche auf die Notlage des Volkes und des Vaterlandes aufmerksam machten und das einzige vernünftige Mittel zur Heilung, die Volkshilfe, vorschlugen.

Dass ein solches Verfahren durchaus verkehrt ist, dass man den Arzt vertreibt anstatt die Krankheit, braucht nicht erst betont zu werden – doch die Tat ist geschehen, sehen wir den Folgen ruhig ins Auge.

Wir werden unseren Lesern noch immer die Hülle und Fülle des Guten und Wissenswerten bieten, wir werden keiner anderen Partei dienen, trotzdem wir die unsere nicht voll und ganz vertreten können – das Ausnahmegesetz aber trägt schon in sich den Keim eines frühen Todes, es wird nur von kurzer Dauer sein.

Deshalb mit frischem Mute, Vorsicht und Kraft zwischen all den Fußangeln des Gesetzes hindurch – immer "Vorwärts!"

Die Redaktion.