Der erste Mai

Magdeburgische Zeitung Nr. 218, 2. Mai 1890

ist in unserer Stadt bis heute Nachmittag fast ohne jede Störung verlaufen; trotz der oftmals in öffentlichen, Fachvereins- und sonstigen Versammlungen und Zusammenkünften gefassten Beschlüsse, den sozialdemokratischen Feiertag mitzumachen, wurde heute in allen großen Fabriken, auf fast allen Neubauten und in den Werkstätten gearbeitet. Wie oft ist in den sozialdemokratischen Versammlungen gegen den fast immer von denselben gestellten Antrag auf Feier dieses Tages von besonnenen Parteiangehörigen mit der Begründung gewarnt worden, dass man diesen Beschluss nach Lage der Sache nicht zur Durchführung bringen könne und die Abstimmung nur ein zwecklose Komödie sei. Das war aber stets in den Wind gesprochen, der Antrag wurde immer fast einstimmig angenommen. Dass die Befürchtungen betreffs Durchführung des Beschlusses gar nicht so unberechtigt waren, ging, ganz abgesehen von dem festen Zusammenhalten der Arbeitgeber, daraus hervor, dass heute Morgen vor der Eingangstür eines hiesigen größeren Fabriketablissements sich einige hundert Arbeiter eingefunden hatten, welche darauf warteten, dass die in der Fabrik beschäftigten Arbeiter sich an der Feier des 1. Mai beteiligen und nicht zur Arbeit kommen würden. Die vor der Tür Harrenden mussten aber wieder von dannen ziehen, da die sehr große Anzahl der dort Beschäftigten vollzählig erschienen war. Selbstverständlich hat es auch nicht an allerlei Unfug gefehlt. Zwei Arbeiter erkletterten in der vergangenen Nacht das Gerüst des Neubaus an der Gr. Münzstr.- und Breiteweg-Ecke, um dort eine rote Fahne mit der Inschrift: „Es lebe die 8-Stunden-Bewegung, Hoch die Sozialdemokratie!“ anzubringen; sie wurden dabei abgefasst und sehen ihrer Bestrafung entgegen. Wieder andere rissen die vom hiesigen Ersten Staatsanwalt erlassene, an den Plakatsäulen angeheftete Warnung herunter. Ein anderer Arbeiter las den Inhalt dieser Warnung laut vor und gebrauchte zum Schluss ein Schimpfwort zur Beleidigung des Staatsanwalts. In der Neuen Neustadt zog heute Morgen ½ 4 Uhr ein Trupp von Arbeitern nach dem Vogelgesang, lagerte sich dort auf dem Spielplatz, um dort zu zechen, und zog um 6 Uhr wieder ab. Es sollen sich etwa 50 Mann daran beteiligt haben, auch Musik dabei gewesen sein. Für heute Abend waren öffentliche Versammlungen im „Schlossgarten“ und im „Odeum“ in Aussicht genommen, in welchen der Schriftsteller Herr Hans Müller aus Rostock über die „Bedeutung des 1 Mai!“ sprechen sollte. Es erschienen aber heute Mittag rote Anschlagzettel an den Plakatsäulen, welche das Verbot der „sozialdemokratischen Versammlung“ seitens des Herrn Polizeipräsidenten Keßler enthielten. Es ist anzunehmen, dass auch im weiteren Verlaufe des Tages keine neuen nennenswerten Ausschreitungen vorkommen werden, da man sich auch hier für alle Fälle sicher gestellt hat.