Zum 1. Mai

Magdeburgische Zeitung Nr. 197, 19. April 1890

Die Bestrebungen zur Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen werden allgemein als eine Pflicht nicht nur der Nächstenliebe, sondern auch der Klugheit begriffen. Aber der Umstand, dass sie gewissermaßen zum beherrschenden Gesichtspunkte unserer ganzen Politik geworden sind, hat zur notwendigen Folge eine sehr beträchtliche Steigerung der Begehrlichkeit in den Arbeiterkreisen gehabt. Über das Bedenkliche dieser Erscheinung kann man umso weniger im Zweifel sein, als man ja nur zu gut weiß, wie die sozialdemokratische Propaganda überall auf der Lauer liegt, um jede sich irgendwo kundtuende Unzufriedenheit für ihre Zwecke zu benutzen. Es darf nicht verschwiegen werden, dass in diesem Zusammenhange weite Kreise des Bürgertums mit Sorge einer Zukunft entgegensehen, in welcher die sozialdemokratische Agitation der Fessel ledig sein wird, welche ihr einstweilen noch durch das Sozialistengesetz angelegt ist. Wir halten diese Sorge für unbegründet; wir vertrauen, dass die Regierung unter allen Umständen die Mittel und Wege finden wird, der revolutionären Gefahr wirksam entgegenzuarbeiten. Aber es handelt sich hier nicht allein um die Wachsamkeit und Festigkeit der Staatsgewalt, es handelt sich eben so sehr, ja noch mehr um die Energie und Entschlossenheit des Bürgertums, insbesondere der Arbeitgeber. Was der Arbeiter billiger Weise fordern kann, das solle sie ihm gewähren, und zwar nicht nur das, wozu sie durch die Gesetzgebung gezwungen werden, sondern auch das, was immer sonst noch die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit gebietet. Aber wo sie sich offenbar maßlosen Forderungen gegenübersehen, die lediglich auf die Erzeugung einer nie zu beschwichtigenden Unzufriedenheit berechnet sind, da müssen sie den Mut haben, ihnen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Niemand kann aufrichtiger und dringender, als wir, ein gutes Verhältnis zwischen Arbeitern und Arbeitgebern auf der Basis beiderseitigen Einvernehmens wünschen; aber geradezu gefährlich würde uns in der heutigen Lage eine Rücksichtnahme auf unberechtigte Begehren erscheinen, doppelt gefährlich, weil sie nur als ein Zeichen der Schwäche betrachtet werden würde. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich nach unserer Meinung die Stellung, welche die Arbeitgeber gegenüber der etwaigen Forderung der Arbeitsaussetzung am 1. Mai einzunehmen haben, von selbst. Die sozialdemokratische Parteileitung hat aus auf der Hand liegenden Gründen die Arbeitsruhe am 1. Mai widerraten. Trotzdem haben in den letzten Tagen wieder zahlreiche Versammlungen die Ruhe beschlossen, um den agitatorischen Zweck des internationalen Arbeiterfeiertages voll und ganz zum Ausdruck zu bringen. Jede Nachgiebigkeit der Arbeitgeber in diesem Punkte wäre ein Fehler, der sich in Zukunft schwer rächen würde.