Der Blaue Maitag

Magdeburgische Zeitung Nr. 186, 14. April 1890

Berlin, 12. April. Nach den Meldungen verschiedener Blätter tritt die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags morgen in Dresden zusammen, um über die am 1. Mai 1890 geplante Kundgebung zu Gunsten des Achtstundentags auch ihrerseits Beschluss zu fassen. In Aussicht genommen war eine solche Konferenz schon gleich nach Erledigung der Reichstagswahlen. Man rechnete nur damals mit einem früheren Zusammentreten des Reichstags und der Möglichkeit, die Besprechung in Berlin selbst abhalten zu können. Dass die Dresdener Verhandlungen unter dem Vorsitz Singers und nicht Liebknechts oder Bebels stattfinden sollen, könnte überraschen. Vielleicht bot der Umstand, dass Liebknecht selbst in der Sache schon Partei ergriffen hat, dazu geführt, vielleicht auch noch Erwägungen anderer Art. Wiederholt schon hat bei Streitigkeiten innerhalb der sozialdemokratischen Partei in den letzten Jahren Herr Singer die Vermittlerrolle gespielt, und wie es scheint, soll auch diesmal nicht die Frage des Weltfeiertages allein den Gegenstand der vertraulichen Besprechungen bilden. Der Ausfall der Wahlen, die veränderte Stellung der sozialdemokratischen Partei im Reichstage, die mit 35 Abgeordneten der Stärke nach die fünftgrößte Partei ist, das alles bedingt eine Veränderung der Parteitaktik selbst. Und wenn von einem sächsischen Blatte sozialdemokratischer Tendenz behauptet wurde, dass alles beim Alten bleiben solle, dass die Partei sich auch im neuen Reichstage wie bisher auf eine rein negative Kritik beschränken werde, so hat Liebknecht selbst es für nötig erachtet, diese Behauptung als irrig zu erweisen. Ein positiver Vorschlag der Partei ist bereits in einem Arbeiterschutzgesetzentwurf, der gleich zu Beginn der Tagung vorgelegt werden soll, angekündigt worden. Auch ein Antrag auf Beseitigung der Lebensmittelzölle und des Sozialistengesetzes soll nicht fehlen. Sicher wird darüber in den Verhandlungen der Konferenz Beschluss gefasst werden, sowie über die Vereinbarung der Taktik, welche durch die starke staatliche Energie auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes bedingt wird, die unzweifelhaft auch auf die Arbeitermassen von Einfluss gewesen ist. Auch von den in den letzten Tagen abgehaltenen Versammlungen der Arbeiter hat sich die Mehrzahl für die Einstellung der Arbeit am 1. Mai entschieden. Von Seiten der Arbeitgeber liegen erst vereinzelte Beschlüsse vor, die indessen keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass die willkürliche Niederlegung der Arbeit überall mit der Entlassung der betr. Arbeiter geantwortet werden wird. Umso mehr darf man gespannt sein auf die Entscheidung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, deren hervorragendsten Mitglieder freilich die größte Schuld schon auf sich luden, als sie in Paris die Hand zu einem Beschlusse boten, durch den die Arbeiter geradezu zur Veranstaltung einer auf alle Fälle gefährlichen Kraftprobe herausgefordert werden.