Sozialpolitische Rundschau

Deutschland [Anonymer Bericht eines Berliner Delegierten zum Wydener Kongress]

Freiheit Nr. 38 vom 18.09.1880

Folgende Korrespondenz dürfte die allgemeinste Beachtung verdienen:

B-n. Berlin, 12. Sept. Wohl nur infolge der Ihnen von hier aus spärlich und unvollkommen gesandten Berichte kamen Sie in die Lage, hinsichtlich des in der Schweiz stattgehabten „Kongresses“ die Berliner Delegiertenwahl mit anderen Wahlen auf gleiche Stufe zu stellen. Dem ist nicht so, wie aus nachfolgenden Tatsachen ersichtlich.

Die weit überwiegende Mehrheit der organisierten Sozialisten Berlins steht auf Seite der „Freiheit“, und als es zur Beantwortung der Frage kam, ob der von Zürich aus einberufene „Kongress“ von Berlin beschickt werden solle, war eine starke Minderheit für Nichtbeschickung, weil sie die Berechtigung der Einberufer nicht anerkannte.

Da unter den gegenwärtigen Zuständen an eine größere Versammlung der Sozialisten Berlins nicht gedacht werden kann, so können Wahlgeschäfte nur durch bevollmächtigte Vertrauensmänner vorgenommen werden, wie es auch in diesem Falle geschah. Die in den verschiedenen Berliner Wahlkreisen gruppenweise organisierten Sozialisten hatten insgesamt 24 Vertrauensmänner mit imperativen Mandaten zur Besprechung der den „Kongress“ betreffenden Fragen abgeordnet und diese 24 wählten, nachdem der Antrag auf Nichtbeschickung mit 12 gegen 11 Stimmen (einer war abwesend) abgelehnt worden war, zwei Delegierte zum „Kongress“, darunter den Redakteur der „Freiheit“, Joh. Most. Erst nachdem Most abgelehnt hatte, wurde an dessen Stelle ein anderer, aber ebenfalls zu den Sozialrevolutionären gehörender Delegierter ernannt. Diese zwei Delegierten erhielten bestimmte Aufträge, so u. A. denjenigen, den „Kongress“ sofort zu verlassen, falls Unregelmäßigkeiten vorkämen, und sie kamen diesem Auftrage nur deshalb nicht nach, weil der eine der zwei Delegierten mit den präzisierten Verhaltungsmaßregeln viel zu spät in der Schweiz ankam, was hier allgemein als ein hinterlistiger Coup gegen die Opposition angesehen wird.

Was nun den Kongress selbst betrifft, so sind folgende Tatsachen von Interesse.

Der eine der Berliner Delegierten kam, wie schon erwähnt, zwei Tage zu spät zum „Kongress“, obwohl die Züricher Herren wussten, wohin man ihn benachrichtigen sollte, allerdings wussten sie auch, dass er der ihnen feindlichen Richtung angehört.

Inzwischen war von Berlin der Auftrag auf Mandatsprüfungen gestellt worden, welcher Antrag verworfen wurde, weil ein bekannter „Führer“ sich mit aller Beredsamkeit dagegen aussprach. – Es ist hier zu bemerken, dass nur fünf oder sechs von den 45 (nicht 56) sogen. „Delegierten“ mit ordnungsmäßigen Mandaten versehen waren, und dass von diesen 45 „Delegierten“ 25 frühere Parteibeamte waren. – Ferner ist zu bemerken, dass das ganze Personal des „Sozialdemokrat“ inkl. Setzer und Maschinenmeister vertreten war.

Von Berlin war neben dem Ausschluss Rackows auc der Auers beantragt, weil sich Letzterer vor der Liquidation der Berliner Genossenschaftsdruckerei nach Aussage des Liquidators H. seinen Gehalt für den Monat Dezember zweimal, in Berlin und Hamburg, bezahlen ließ. Über diesen Antrag soll eine Untersuchungs- (soll wohl heißen Vertuschungs-) Kommission seiner Zeit berichten. – Dieser, sowie alle Berliner Anträge, wurden von den beiden Delegierten nicht motiviert, da ihnen ob der „Würde“ dieses „Kongresses“ die Sprache verloren gegangen zu sein scheint.

Über Hasselmann und Most und die Haltung Berlins wurde ca. 2 Tage debattiert, wie sich überhaupt die Herren Parteibeamten dort so recht in ihrem Teich fühlten und schwatzten, als ob kein Sozialistengesetz existierte. (Es war ja in der Schweiz. Der Setzer.) Unter 1-2 Stunden ging es bei den bekannten Rednern nicht ab, sobald sie das Wort hatten. Bei dieser Gelegenheit erfuhren die Berliner Delegierten auch, dass Berlin die Stütze des „Sozialdemokrat“ und der „Neuen Welt“ sei, und dass die beiden Blätter nicht mehr bestehen könnten, wenn Berlin ganz ins Lager der Sozialrevolutionäre ginge. Schon jetzt könnten die genannten Organe der Leipziger Richtung nicht ohne die Subvention eines reichen Herren existieren. – Merkt’s Euch!

Von Berlin war auch Wahlenthaltung befürwortet worden, während der Dauer des Ausnahmezustandes. Dieser Antrag wurde selbstverständlich verworfen, ist ja doch das „Wählen“ der einzige Rettungsanker dieser halbbankrotten Phrasenhelden. – Aber charakteristisch äußerten sich privatim zu den Berliner Delegierten drei Herren Reichstagsabgeordnete: „Gewählt wird und sollte es 100.000 Mark kosten!“ – Die Berliner werden sich das merken.

Um den Hohn zu vollenden, ließen sich die bekannten Größen von diesem Bastard-„Kongress“ zum „Parteivorstand“ proklamieren. – Nun, es werden sich gewiss nicht viel Dumme finden, die sich eine derartige oktroyierte Diktatur gefallen lassen, welche in ihrem Arrangement einer Bourgeois-Komödie gleicht.

Die Tatsachen lassen aber erkennen, dass dieser sog. „Kongress“ nur einberufen war, um die große Masse zu düpieren – und heute sind sich hier die meisten klar, dass der vor einigen Monaten einberufene Kongress damals nur aus dem Grunde „vertagt“ wurde, weil die Mehrheit der Delegierten gegen die Partei-Drohnen, die sich jetzt „Partei-Vorstand“ benennen, oppositionell war.

Dass das hier erzählte im offiziell für die Nicht-Anwesenden zugestutzten „Kongress-Protokoll“ nicht enthalten ist, versteht sich von selbst, wie ja keiner der Berliner Delegierten aus demselben die Verhandlungen wiedererkennt.