[Johann Most]

Auch ein Stück Parlamentarismus

Freiheit Nr. 36 vom 04.09.1880

In der Nähe von Zürich – das ist nämlich eine ganz schöne Gegend – waren vor 14 Tagen genau 56 Männer und Jünglinge zusammen gekommen, um als Repräsentanz der „Sozialdemokratie deutscher Zunge“ die Welt mit einigen Thesen zu beglücken. Das literarische, studentische und administrative Element war das tonangebende, die Proletarier-Delegierten bildeten das Gefolge.

Böse Zungen behaupten, die meisten dieser Leute hätten sich ihre Mandate gegenseitig selber ausgestellt; allein das ist entschieden eine Verleumdung, denn wir haben Berichte, wonach die Delegierten überall ganz ordnungsgemäß gewählt worden sind. So hat Berlin z.B. volle zwanzig Mann aufgeboten, um die Delegation zu ernennen. Und man greift nicht zu niedrig, wenn man behauptet, dass im Ganzen ca. 400 Personen bei der Auswahl dieser Partei-Repräsentanten mitgewirkt haben. Niemand wird bestreiten wollen, dass das eine Massen-Kundgebung war.

Wer die Reisekosten bezahlte? Je nun, mancher wohnte schon zuvor in Zürich, war also zur Delegation sehr „geeignet“; andere, die zwar in Deutschland wohnen, aber momentan „zufälligerweise“ in der Schweiz sich aufhalten, waren auch billig zu haben. Im Übrigen – wozu wären denn die Goldonkels da?

Wie wir vorausgesagt haben, handelte es sich bei diesem „Kongress“ wesentlich um 2 Dinge, um Anerkennung des Züricher Blattes als „alleiniges Zentralorgan der Sozialdemokratie deutscher Zunge“ und um Exkommunikation derer, welche keine Lust haben, als tote Kadaver unter der Liebknechtschaft zu figurieren.

Jene Zeitung, welche wir nun als das Organ bezeichnen möchten, hatte aber bekanntlich im Laufe von 11 Monaten schon so haarsträubende Bocksprünge gemacht, dass niemand mehr recht wusste, welche Tendenz es eigentlich hat, daher musste das Vertrauensvotum etwas verzuckert werden; ohne solche Versüßung wüssten ja die 56 gar nicht, wie sie es im Lande verteidigen sollten.

Man strich also aus dem Passus im Gothaer Programm, worin es hieß, dass die Ziele des Sozialismus „mit allen gesetzlichen Mitteln“ anzustreben seien, das Wort „gesetzlich“, um welches man in manchen Gegenden sich noch bis in die jüngste Zeit hinein so sehr gestritten hatte, dass es Püffe und Kniffe, Vereinsspaltungen und Privatfeindschaften darob absetzte.

Man wird übrigens zugeben, dass die Satzung „mit allen Mitteln“ immerhin noch Hinterpförtchen genug hat, um den „gesetzlichen Weg“, so oft man will, einschleichen zu lassen. Ja, derselbe ist sogar sowieso damit nicht verpönt worden, so wenig wie damit die Notwendigkeit eines revolutionären Vorgehens betont ist.

Nur keine Präzision! Die Herren Grüntischler der Sozialdemokratie müssen stets in der Lage sein, sich konstitutionell einerseits wie andererseits zu bewegen.

Wir wetten Hundert gegen Eins, dass nun die neueste Mache gekrönt wird, indem man den ungeduldig werdenden Proletariern zu Gefallen hie und da revolutionär schreibt, obgleich noch vor ganz kurzer Zeit ein solches Beginnen als wahrer Hochverrat an der Sozialdemokratie bezeichnet wurde. Aber nicht minder sicher ist es, dass in dem Augenblicke, wo z.B. die „Freiheit“ vom Schauplatze verschwinden würde, dem 56er jeder revolutionäre Ton augenblicklich in der Kehle stecken bliebe. Und wenn vollends wieder einmal eine revolutionäre Tat passierte, wenn etwa ein zweiter Nobiling irgend einen „hohen“ Halunken ein wenig mit Blei fütterte – welch’ ein Gezeter! Wir kennen die Weise, wir kennen den Text, wir kennen die Herren Verfasser. Die Arbeiter aber kennen ihre Pappenheimer nachgerade auch und werden keine Lust bezeugen, den neuesten Schlangenwindungen eine Weile nachzuschleichen, um binnen Kurzem zu sehen, dass es „wieder einmal nichts ist“. Sie sind jetzt gewitzigt genug und lassen sich nicht mehr gängeln, weder durch blaue noch rosafarbene Bänder. Wer denken gelernt hat, wird nach wie vor wissen, in welcher Kolonne er zu marschieren hat.

Nach dieser Erörterung können wir es uns auch ersparen, über die stattgehabten Exkommunikationen von Hasselmann und Most (ob sonst noch jemand „ausgeschlossen“ worden ist, haben wir bis jetzt nicht in Erfahrung bringen können) hinweg zu gehen. Erstens sind die Genannten nun schon wenigstens zum 6. Male „ausgeschlossen“ worden, so dass die Sache anfängt, heiter zu werden. Zweitens trugen dieselben von vornherein kein Verlangen, zu den 56 gerechnet zu werden. Aber diese 56 sind ja die „Sozialdemokratie deutscher Zunge“! Wer lacht da?