Wilhelm Hasselmann

Ein offenes Wort an das deutsche Proletariat

Freiheit, Sozialdemokratisches Organ, London, Nr. 31 vom 31. Juli 1880

Deutsche Proletarier, wollt ihr ewig eure Ketten tragen? Wollt Ihr dem Frevelmute eurer Peiniger nur mit schwachherzigen Seufzern antworten? Wollt ihr mit geducktem Nacken das herbe Joch tragen und auf die neue, auf Gerechtigkeit beruhende Gesellschaft tatenlos warten, wie die Juden auf die Ankunft ihres Messias? Proletarier, wenn der alte sozialdemokratische Geist euch noch durchglüht, wenn Mannesmut eure Brust schwellt, dann werdet ihr jetzt in der Zeit des schweren Druckes nicht von der Feigheit der Sklavenseele gepackt werden, sondern mit feurigem Herzen und klarem Kopf Hand ans Werk legen zur erlösenden Tat!

Ja, zur Tat, Proletarier, Bataillone der Arbeit! Worte sind genug geschwatzt worden, gerade genug, um den Ekel und den Hohn eurer Feinde bereits herauszufordern. Schon meinen eure Peiniger, sie hätten eine neue Sorte von Fortschrittlern, von „Revolutionären in Schlafrock und Pantoffeln“ vor sich. Nun wohlan, zeigt ihnen, dass der Arm, welcher den Hammer schwingt, zu Besserem da ist, als zum Kettentragen.

Denkt daran, wie die Tyrannen, welche euch in die Fesseln des Sozialistengesetzes geschlagen haben, jetzt hohnlächelnd sich damit brüsten, dass dem gesetzlichen Wege, auf dem durch Wort und Schrift, durch Wählen und Beraten die deutschen Arbeiter voranschritten, eine berghohe, chinesische Mauer entgegen gebaut ist, an der alle eure Anstrengungen scheitern werden, so lange ihr mit nackten Händen daran rüttelt und das allein richtige Mittel verschmäht - das Pulver. Ein Blitz und Krach und zerschmettert am Boden liegt der Wust der alten Kerkermauer, wie am 14. Juli 1789, wie am 24. Februar und 18. März 1848, wie am 18. März 1871. Aber nimmermehr wird die Mauer fallen, wenn ihr das rechte, das einzige Mittel verschmäht.

Und warum solltet ihr es verschmähen? Geht es euch zu wohl in euren Ketten? Denkt an die jetzige Tyrannei! Euch und Hunderttausende eurer Brüder steckt ein Tyrann in den „bunten Rock“, damit ihr so zu seinen Knechten und zu Brudermördern heran gedrillt werdet mit Fußtritten und Ohrfeigen. Das freie Wort, die Vereinigung ist Euch geraubt, aber auf Schritt und Tritt umschleichen euch geheime und offene schurkische Polizeispione. Am Hungertuch nagt ihr, das eherne Lohngesetz drückt euren Nacken, ja selbst das winzige Zugeständnis, das Koalitionsrecht, hat man euch zum Jubel der Ausbeutergesellschaft durch das Sozialistengesetz gestohlen! Das allgemeine Wahlrecht endlich hat man durch den modernen Maulkorb euch hinweg gefälscht. Proletarier, ist ein solches Hundeleben, ein solches langsames Verhungern und Verkommen nicht ein Los, tausendmal schlimmer als die Kugel, welche den Freiheitskämpfer von der Barrikade hinweg reißt? Sicherlich! Jeden Mutigen muss brennender Zorn erfüllen, ein Ende zu machen mit dieser Tyrannei. Tod ist besser denn Sklavenleben.

Aber ihr werdet fragen, wie gegen die Kanonen und Bajonette der Machthaber das Volk seinen nackten Arm erheben kann, ohne sofort blutig niedergeschlagen zu werden. Nur den Mut nicht verloren, das Volk hat so manche Tyrannei schon niedergeschmettert, dass es zuversichtlich von seinen heutigen Tyrannen sich auch befreien wird. Kanonen und Bajonette sind zuverlässige Stützen der Throne nur so lange, als der „gemeine Soldat“ noch am Kainszeichen Lust empfindet. Aber jedesmal, wo in die Reihe der Soldaten Freiheitsliebe und Zorn über die Not des Volkes eingedrungen waren, da hat der Soldat, sobald das Volk sich ernsthaft erhob, und er erkannte, dass die allmächtige Disziplin ein Loch bekommen, dem Volke die Bruderhand gereicht. Und wahrlich, im deutschen Heere stecken genug Söhne hungernder Proletarierfamilien, um dem Soldaten in der entscheidenden Stunde die Augen über seine Pflichten gegen das Volk zu öffnen.

Nun gibt es viele Schönredner, Arbeiter Deutschlands, welche, wenn ihr ingrimmig die Faust ballt, euch zureden: „Ja, die Revolution wird kommen; aber um Alles in der Welt haltet euch bis dahin ruhig; macht keinen ‚Putsch‘, der verunglückt.“ Es liegt uns gewiss fern, zu einem vorwitzigen, unvorbereiteten Aufstandsversuch, der dieser halb missglücken muss, zu raten; aber jene Einschläferer, deutsche Arbeiter, das sind eure schlimmsten Feinde, denn diese Feigheitspfaffen rauben euch den Mannesmut. Noch niemals ward eine Revolution gemacht ohne Revolutionäre, ohne Männer, welche, die Flinte im Arm, auf die Straße hinaus schritten. Und noch niemals sind diese Männer der Revolution auf die Barrikaden gestiegen, ohne dass sie sich lange zuvor bewusst zur gewaltsamen Revolution organisiert und bewaffnet hätten. Nur dann kann die Freiheit siegen, wenn in dem entscheidenden Moment unter dem Volk sich die Männer erheben, welche es zum Kampfe aufrufen und ihm voranmarschieren. Wenn eine Volksmasse auch noch so erbittert von einer tyrannischen Gewalttat oder vor der Verzweiflung der Hungersnot durch die Straßen stürmt, gibt es sicherlich keine siegreiche Erhebung, sondern höchstens einen nutzlosen blutigen Krawall, sobald unter ihr die geschlossenen Scharen der bewussten, bewaffneten Revolutionäre fehlen, deren Aufgabe es dann ist, rasch die Massen zum Kampf zu ordnen. Ebenso verunglückt natürlich auch der Aufstandsversuch einer kleinen Zahl Verschworener, wenn der Zeitpunkt schlecht gewählt war und die Volksmasse kalt blieb. Aber eines solchen bedauernswerten Zufalles wegen soll man wahrlich die fallenden Märtyrer nicht schmähen.

Die Ereignisse der letzten hundert Jahre lehren uns zur Genüge die Vorbedingungen der Revolutionen kennen. „Künstlich gemacht“ durch einige Wenige wird die Revolution nicht; ebenso wenig fällt sie aber vom Himmel herunter, oder fliegt als gebratene Taube den gläubig harrenden Utopisten in den Mund. Eine Revolution bricht los, wenn festes Klassenbewusstsein und tiefe Erbitterung die geknechteten Volksmassen durchdringt und eine neue Idee die vorwärtsstrebenden Köpfe erfüllt; das ist die historisch notwendige Vorbedingung; und für die bevorstehende Revolution des Proletariats schaffen die sozialen Verhältnisse mit jedem Tage neuen Zündstoff. Aber die theoretische Notwendigkeit der Revolution bleibt Theorie ohne die praktischen Rebellen. Auch der Chinese und Inder hungert und hätte nicht minder Grund zur sozialen Revolution wie der Proletarier von Paris, aber ihm fehlt die Manneskraft der Söhne der Revolution; daher hungert er, legt sich nieder und stirbt. Wollen wir deutsche Sozialisten den Chinesen es gleich tun oder den heldenmütigen Proletariern von Paris?

Seien wir also Rebellen! Bereiten wir uns vor auf die Stunde des Kampfes, denn nimmermehr wird die erlösende Stunde schlagen, wenn wir nicht selbst die Sturmglocke schwingen.

Und hierzu müssten wir im engen Kreis uns organisieren und rüsten, nicht große Haufen, aber zuverlässige Männer vereinigen. Die großen Städte sind die Schlachtfelder der sozialen Revolution; in ihnen muss zunächst die Konzentration angestrebt werden.

Es fällt uns nicht ein, euch, Arbeiter Deutschlands, zu diesem Zwecke „Verschwörungsspielerei“ zu empfehlen, mit geheimen Zentralleitungen usw.; denn dieses nützt meist nur dem finsteren Treiben der Geheimpolizei. Aber vollkommen wirksam können wir uns organisieren, wenn in den vertrauten Kreisen je zehn und zwanzig einander genau bekannte Freunde zusammentreten, ohne durch Mitgliederverzeichnisse, Statuten etc. Anhaltspunkte zu Verfolgungen zu bieten, wenn diese frei gebildeten Gruppen mit aller Energie durch Wort und Schrift die revolutionäre Idee verbreiten, wenn sie mit ihren Freunden und Gesinnungsgenossen im Militär stete Fühlung halten, wenn sie sich schließlich, jeder auf eigene Faust, mit einem guten Hinterlader zur „Hasenjagd“ versehen.

Viertausend derart organisierte und bewaffnete Sozialisten in der Reichshauptstadt Berlin und eine entsprechende Anzahl in den Hauptindustriestädten gesammelt – und Moltke soll die Nuss nicht leicht knacken. Denn wenn in dem Augenblick, wo allgemeine Volkserbitterung die Massen in die Straßen Berlins treibt, viertausend todesmutige, bewaffnete Proletarier wie die Drachensaat des Kadmos[1] aus der Erde wachsen und den Volksaufstand organisieren, dann sind hunderttausend Volkskämpfer, die ihnen folgen, gewiss, und nach einem Tage erfolgreichen Widerstandes wird der Soldat des Mordes seiner eigenen Brüder müde sein, während die Erhebungen in der Provinz den Zuzug der Soldateska abhalten. So und nicht anders kann das Volk seine Ketten brechen!

Als 1830 das Volk von Paris die Bourbonen vertrieb, waren die Carbonari[2] seine Führer; als es 1848 Louis Philippe verjagte, gelang der Sieg ihm nur, weil zweitausend gut bewaffnete und organisierte Republikaner und Sozialisten aus waffnete und organisierte Republikaner und Sozialisten aus den geheimen Gesellschaften an der Spitze fochten, als am 18. März 1871 endlich das Volk von Paris sich erhob, waren es die sozialistischen Bataillone der Nationalgarde, welche den Ausschlag gaben. Nirgend finden wir einen Volkssieg ohne Mitwirken einer kleinen, aber entschlossenen, wohlbewaffneten Rebellenschar.

Deshalb, ihr sozialistischen Arbeiter Deutschlands, haltet ein mit dem ewigen Hoffen und Harren, bereitet euch vor zum Kampfe der Revolution. Macht euch vertraut mit der Idee, dass jeden Augenblick die Stunde schlagen kann, die von euch fordert, mit den Waffen in der Hand euren Brüdern im Kampfe voranzuschreiten. Versäumet ihr, euch entschlossen vorzubereiten, dann habt ihr eurem Säumen es zuzuschreiben, wenn der Verzweiflungskampf der hungernden Proletarier, der früher oder später, aber ganz sicher losbrechen wird, waffenlos und ohne Plan im Blute erstickt werden wird. Denkt ihr aber bei Zeiten an die Tat, dann wird das Banner des Proletariats nichts hoffnungslos im bevorstehenden Kampf auf den Barrikaden wehen. Dann wird die Stunde schlagen, wo

Aus Staub und Blut erhebt das Volk

Siegreich sein lang zertreten Haupt.

Wehen hat jegliche Geburt,

So wird es kommen, eh‘ ihr‘s glaubt.

Fußnoten

[1] Kadmos: Phönizischer Prinz in der griechischen Mythologie, der eine Drachen erschlug und dessen Zähne auf Geheiß der Göttin Athene in den Boden pflanzte. Aus dieser „Drachensaat“ erwuchsen Männer, die sich gegenseitig bekämpften, bis nur noch fünf übrig waren.

[2] Carbonari: italienische Geheimgesellschaft, die für die nationale Unabhängigkeit kämpfte. Sie hatte auch in Frankreich zahlreiche Ableger (Charbonnerie), mit denen sie gemeinsam gegen die Bourbonenherrschaft kämpften.